Freitag, 5. August 2011

Kant im Anzug: Ein Lob der Popularisierung


Kompliziertheit mit Tiefsinn zu verwechseln ist eine nicht unweit verbreitete akademische Unart. Glücklicherweise finden sich auch beim allenthalben anerkannten und immerzitierbaren Philosophiegroßmeister Reflexionen über eine angemessene Popularisierung des Wissens, mehr noch, auch eine Mahnung vor konservativen Festhalte- und Abschottungsambitionen:

In Ansehung der Wissenschaften gibt es zwei Ausartungen des herrschenden Geschmacks: Pedanterie und Galanterie. Die eine treibt die Wissenschaften bloss für die Schule und schränkt sie dadurch ein in Rücksicht ihres Gebrauches; die andre treibt sie bloss für den Umgang oder die Welt und beschränkt sie dadurch in Absicht auf ihren Inhalt.
Der Pedant ist entweder als Gelehrter dem Weltmanne entgegengesetzt und ist in so fern der aufgeblasene Gelehrte ohne Weltkenntnis, d. i. ohne Kenntnis der Art und Weise, seine Wissenschaft an den Mann zu bringen; – oder er ist zwar als der Mann von Geschicklichkeit überhaupt zu betrachten, aber nur in Formalien, nicht dem Wesen und Zwecke nach. In der letztern Bedeutung ist er ein Formalienklauber; eingeschränkt in Ansehung des Kerns der Sachen sieht er nur auf das Kleid und die Schale. Er ist die verunglückte Nachahmung oder Karikatur vom methodischen Kopfe. – Man kann daher die Pedanterei auch die grüblerische Peinlichkeit und unnütze Genauigkeit (Mikrologie) in Formalien nennen.

[...]
Denn wahre Popularität erfordert viele praktische Welt- und Menschenkenntnis, Kenntnis von den Begriffen, dem Geschmacke und den Neigungen der Menschen, worauf bei der Darstellung und selbst der Wahl schicklicher, der Popularität angemessener, Ausdrücke beständige Rücksicht zu nehmen ist. – Eine solche Herablassung (Kondeszendenz) zu der Fassungskraft des Publikums und den gewohnten Ausdrücken, wobei die scholastische Vollkommenheit nicht hintenan gesetzt, sondern nur die Einkleidung der Gedanken so eingerichtet wird, dass man das Gerüste – das Schulgerechte und Technische von jener Vollkommenheit – nicht sehen lässt (so wie man mit Bleistift Linien zieht, auf die man schreibt, und sie nachher wegwischt) – diese wahrhaft populare Vollkommenheit des Erkenntnisses ist in der Tat eine grosse und seltene Vollkommenheit, die von vieler Einsicht in die Wissenschaft zeigt. Auch hat sie ausser vielen andern Verdiensten noch dieses, dass sie einen Beweis für die vollständige Einsicht in eine Sache geben kann. Denn die bloss scholastische Prüfung einer Erkenntnis lässt noch den Zweifel übrig: ob die Prüfung nicht einseitig sei, und ob die Erkenntnis selbst auch wohl einen von allen Menschen ihr zugestandenen Wert habe? – Die Schule hat ihre Vorurteile so wie der gemeine Verstand. Eines verbessert hier das andre. Es ist daher wichtig, ein Erkenntnis an Menschen zu prüfen, deren Verstand an keiner Schule hängt. – 
(Kant, Logik)

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