Dienstag, 28. Mai 2013

"Aber der Kaiser ist ja gar nicht nackt!" - Über die Widerständigkeit sozialer Tatsachen

"Die Festigkeit der Außenwelt ist in ihrer Wunschresistenz begründet." - (J.Clam)

(Nicht nackt)
Sozialkonstruktivisten einfacher Bauart verbinden mit der These der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit traditionell eine starke Faszination für die Kontingenz sozialer Verhältnisse. Die Vorstellung, dass alles auch ganz anders sein könnte, die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht stabil sondern plastisch, die soziale Wirklichkeit bloß wie ein leichtes "Ideenkleid" (Husserl) über die "rohe Wirklichkeit" geworfen sei und also auch das chaos irgendwie immer mitregiert, lässt sie kontingenzbeschwipst die permanente Anwesenheit von Ausnahmezuständen imaginieren, die alles jederzeit noch einmal ganz anders sein lassen könnten ("Und immer steht im Kulturkostüm zugleich vor dir das nackte Leben."). Indem sie auf die kontingente Entstehung sozialer Tatsachen verweisen, deren Angewiesenheit auf fortwährende performative und implizite Ratifikation, glauben sie den Schleier schon gelüftet, den Widerstand der sozialen Wirklichkeit schon gebrochen zu haben. Gemeinsam mit dem Kind würden sie gerne vor die Szene gehen und es für alle hörbar aussprechen: "Aber die soziale Wirklichkeit hat ja in Wirklichkeit gar nichts an!" Nichts weiter als eine verschwiegene Verabredung sei die ja, ein Mechanismus, dessen Betriebsgeheimnis nicht folgenlos ausgeplaudert werden kann: Unsere Wirklichkeit ist konstruiert! Der Kaiser ist in Wirklichkeit ganz nackt!

Das Problem dabei ist: Der Kaiser ist ja gar nicht nackt: er trägt ja die Kleider "aus dem schönsten Zeug, das man sich denken kann", solange andere das handelnd beglaubigen und damit einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht, obwohl es nichts (außer diesem Unterschied) zu sehen gibt. De facto mag der Kaiser nackt sein, de jure trägt er das schönste Gewand. Hinreichend beglaubigte Unterschiede erzeugen einen Wirklichkeitswiderstand, dem der findigste Genealoge nichts außer dessen Gemachtheit entgegensetzen kann: Nur, wer die nackten mit den sozialen Tatsachen verwechselt, reiht sich hier unter die entblößenden Kinder ein; die Anderen suchen Wege zwischen den Widerständen. 

Die Normativität des Faktischen ist insofern nichts anderes als dieser Widerstand, den eine soziale Tatsache durch explizite und implizite Beglaubigung selbst darstellt. Ein Unterschied, der außer sich selbst keinen Unterschied macht. Den aber eben schon.
The institutions, as historical and objective facticities, confront the individual as undeniable facts. The institutions are there, external to him, persistent in their reality, whether he likes it or not. He cannot wish them away.

(Berger & Luckmann, The Social Construction of Reality)

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