Freitag, 13. Februar 2015

Für einen „militanten Humanismus“. Aufruf zur Reaktivierung einer Idee Thomas Manns

Man kann es ruhig zugeben: Hinter unserer Erschütterung, hinter unserer Empörung angesichts der Bilder der Grausamkeit, die uns in den letzten Monaten mit erschreckender Regelmäßigkeit erreichen, verbirgt sich noch ein tieferes, ein noch unheimlicheres Gefühl. Ob die fundamentalistischen Anschläge der jüngeren Vergangenheit, der anhaltende Terror der IS oder von Boko Haram: die Bilder, die wir zu sehen bekommen, die Taten, von denen uns berichtet wird, erzeugen in uns ein Gefühl fataler Hilflosigkeit. Dabei ist es nicht allein die Bereitschaft der Kämpfer und Attentäter, selbst bei ihren Anschlägen zu sterben, nicht nur ihr kühler Heroismus, der in uns ein solches Gefühl der Hilflosigkeit weckt, sondern die unverhohlene, explizit ausgestellte Wahl ihrer brutalen Mittel. Während wir in unserer – immer noch verhältnismäßig gemütlichen – Zivilisations-Komfortzone inzwischen dazu übergegangen sind (glücklicherweise!), öffentlich über die implizite Gewalt von alltäglichem Sexismus und die psychischen Langzeitfolgen von Mobbing in der Schule zu diskutieren, erscheinen uns die Bildern, auf denen Männer und Kinder abgeschlagene Köpfe in heiterem Triumph in die Kameras halten, als seien sie schlicht nicht (mehr) aus unserer Welt.  

Was ist es aber eigentlich, das uns an diesen Bildern solche Angst bereitet? Es ist nicht so sehr die Angst, selbst von einem Anschlag getroffen zu werden (die Wahrscheinlichkeit hierfür ist, wie die Statistiken uns lehren, verschwindend gering). Es ist die Ahnung, dass der Fanatismus, der Fundamentalismus, der aus solchen Handlungen spricht, allen Zweifel, jede Unsicherheit, jedes Zögern hinter sich gelassen hat. Und es sind gerade unser Zögern und unser Zweifeln, die uns diesem gegenüber so hilflos machen. Die humanistische Grundhaltung, wie wir sie kennen und (in großen Teilen zumindest) immer noch kultivieren, gerät in der Konfrontation mit einem solchen Fanatismus an eine Grenze, die sie hilflos und beinahe lächerlich erscheinen lässt. 

Ein solches Dilemma des Humanismus brachte Thomas Mann 1936 wie folgt auf den Punkt: 
„In allem Humanismus liegt ein Element der Schwäche, das mit seiner Verachtung des Fanatismus, seiner Duldsamkeit und seiner Liebe zum Zweifel, kurz: mit seiner natürlichen Güte zusammenhängt und ihm unter Umständen zum Verhängnis werden kann. Was heute nottäte, wäre ein militanter Humanismus, ein Humanismus, der seine Männlichkeit“ – als gegenwärtiger Leser darf man ‚Männlichkeit‘ hier wohl mit ‚Unnachgiebigkeit‘ und ‚Stärke‘ identifizieren – „entdeckte und sich mit der Einsicht erfüllte, daß das Prinzip der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifels sich nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf.“
Den Humanismus wollte er dabei allerdings nicht „philologisch“ verstanden wissen, nicht als eine Sache für ein paar bibliophile Alteuropäer, sondern als 
„eine Gesinnung, eine geistige Verfassung, eine menschliche Stimmung, der es um Gerechtigkeit, Freiheit, um Wissen und Duldsamkeit, um Milde und Heiterkeit, zu tun ist; auch um den Zweifel, – nicht um seiner selbst willen, sondern um den Zweifel als ein Werben um die Wahrheit, eine liebende Bemühung um sie, die höher steht als aller Wahrheitsbesitzerdünkel.“ 
Ebenjener „Wahrheitsbesitzerdünkel“, der sich frei gemacht hat von allem Zögern und Zweifeln, spricht aus der Brutalität, mit der wir uns heute konfrontiert sehen. Er provoziert die ahnende Befürchtung, dass es mit Freundlichkeit und Toleranz, mit einer zweifelnden, duldsamen Haltung im Angesicht aggressiver Fanatismen und Fundamentalismen langfristig nicht mehr getan ist. 

Man könnte nun vermuten, dass hinter den neo-konservativen Bewegungen, die in den letzten Jahren unter verschiedenen Namen (Sarrazin, AfD, PEGIDA, …) ihre Erfolge feierten (und diese – trotz aller vorschnellen Schadenfreude über das klägliche Zerbröseln von PEGIDA – in den kommenden Jahren auch noch weiter feiern werden), letztlich eine ähnliche Befürchtung steht. Was diese aber dem diffusen Gefühl der Bedrohung entgegensetzen ist gerade nicht die Haltung, die Thomas Mann als eine humanistische beschreibt. Es ist vielmehr eine Haltung, die sich ihrerseits anheischig macht, die unangenehmen, grundsätzlichen Wahrheiten endlich offen auszusprechen, denen die weichgespülten, „linksversifften“ Medien angeblich nicht mehr ins Auge zu blicken wagen. Was in aller unangenehmen Deutlichkeit in den „Lügenpresse“-Rufen laut wurde ist ein neu-definitiver Ton, eine Selbstgefälligkeit der eigenen Lagebeschreibung, die gerade uns Zögerlichen fehlen. Diese Selbstgefälligkeit ohne allen Selbstzweifel ist es, die die islamistischen und die neu-konservativen Fundamentalismen miteinander teilen – und die sie zugleich so unheimlich macht.

Was sich in der lautstark geäußerten Kritik an der Verweichlichung der Europäer, ihrer politischen und medialen Vertreter bahnbricht – Pirinçci neues Buch soll bezeichnenderweise „Die große Verschwulung“ heißen –, ist eine Verachtung für die humanistischen Ideale selbst. Der humanistischen Ideale, insofern gerade sie es zu sein scheinen, die uns gegenüber fundamentalistischen Positionen so hilflos machen: Zögern, Zweifel, Duldsamkeit – sie alle erscheinen aus dieser Perspektive als nichts anderes als die lächerlichen Leuchtreklamen unserer humanistischen Schwächlichkeit. 

Wie aber sollte ein streitbarer Humanismus aussehen, der sich selbst auch als er selbst zu verteidigen weiß? Ein Humanismus, dessen Votum für Duldsamkeit und Zweifel ihn im Angesicht neuer Fundamentalismen nicht hilflos erscheinen lässt? 

Humanismus ist – hierin wahrscheinlich der Demokratie verwandt – langsam und anstrengend. Aber es ist genau dieses Votum für die Anstrengung, für den Zweifel und das Zögern, die die eigentliche Stärke, die Faszination und letztlich auch den Wert des Humanismus ausmachen. Das humanistische Zweifeln ist – und es ist eine sehr große Herausforderung, das zu erkennen – eine Haltung, die ihren Halt in der Rückhaltlosigkeit findet. Er ist ein Heroismus, der darin besteht, auf die Weichlichkeit falscher Letztbegründungen zu verzichten und der sich stattdessen der Unheimlichkeit der immer nur zweitbesten Gründe aussetzt. Der heroische Zweifel ist eben kein Fundament im Sinne eines Fundamentalismus. Und gerade hierhin liegt seine Stärke: In seiner Unnachgiebigkeit des Infragestellens, die keine falsche Flucht in vermeintliche letzte Gründe und abschließende Sicherheiten zu akzeptieren bereit ist. 

Was heute nottäte, sind Personen, die dieser Haltung eine Kontur verleihen, sie gegen all jene verteidigen, die ihrerseits aus nachvollziehbarer Schwäche und Angst vor Fundamentalismen in neue Fundamentalismen zu flüchten versuchen, die ihnen klare und eindeutige Bilder der Lage versprechen. Das bedeutet allerdings auch, sich all jenen argumentativ entgegenzustellen, die diese Haltung heute zugunsten von verführerischen neuen Eindeutigkeiten infragestellen, sie nicht aus falscher Hochnäsigkeit oder Sorge vor deren Wiedererstarkung zu ignorieren und auszublenden, sondern sie frontal, argumentativ, überall und immer wieder anzugreifen.
 
Wenn dies die Haltung eines „militanten Humanismus“ auszeichnet, dann sollten wir damit wohl nicht länger zögern.

5 Kommentare:

  1. Für mich wäre das am ehesten der "Evolutionäre Humanismus", der Giordano-Bruno-Stiftung. Auch andere humanistische Vereine passen meines Erachtens recht gut zu dieser anti-dogmatischen Beschreibung. Unter www.hpd.de gibt es regelmäßig Nachrichten aus diesem Umfeld.

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    1. Gegenüber der GBS wäre ich zögerlich. Der anti-religiöse (oder zumindest atheistische) Naturalismus scheint mir seinerseits gefährlich nahe an einer fundamentalistischen Position verortet. Werde mir das aber mal noch genauer ansehen..

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    2. Na ja, was heißt "anti-religiös". Die GBS ist wie auch andere humanistische Vereine unter anderem dafür, dass Staat und Kirche konsequent getrennt sein sollte. Davon kann momentan keine Rede sein. Es gibt in Deutschland hier eine enge Verstrickung, z.B. bei der staatlichen Finanzierung von Bischöfen, beim Religionsunterricht schon an Grundschulen, beim Einfluss der Kirchen in den Rundfunkräten, der großzügigen Finanzierung von "Kirchentagen", Krankenhäuser und Kindergärten mit "kirchlicher Trägerschaft", die de facto rein staatlich finanziert werden, von den Kirchen aber teilweise ideologisch in eigener Sache, z.B. bei der Personalpolitik, instrumentalisiert werden usw. Außerdem bestimmten noch immer dogmatisch-reliöse Positionen häufig Debatten, wo eigentlich begründete ethische Argumente notwendig wären, z.B. zur Sterbehilfe oder zu Knabenbeschneidung. Da läuft es ähnlich wie früher bei Leihmutterschaft, Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch, Sex vor der Ehe etc. Kaum eine gesellschaftliche Errungenschaft seit der Aufklärung, die nicht gegen den erbitterten Widerstand der Kirche durchgesetzt wurde. Gleichzeitig positioniert man sich beim modernen Humanismus aber auch klar für Menschenrechte und z.B. gegen den konservativen Abendlandspatriotismus vom Pegida-Typ der wenig mit begründeter Kritik am Islam und viel mit irrationalen Ressentiments gegenüber anderen Kulturen zu tun hat.

      Zum Atheismus: Den sehe ich genauso weit vom Fundamentalismus entfernt wie den fehlenden Glauben an Geister oder Osterhasen. Zumal der Atheismus (oder auch Theismus) alleine eben noch keine Weltanschauung ist, sondern höchstens ein kleiner Teil davon, wie etwa wenn einer nicht an Gespenster oder Wunder oder Homöopathie oder das Jenseits glaubt. Der "Evolutionäre Humanismus" oder vergleichbare Konzepte sind da schon eher umfassendere Weltanschauungen, und insofern auch eher z.B. mit Religionen vergleichbar. Ein Unterschied ist der Verzicht auf dogmatische Setzungen, der Skeptizismus, der "Halt in der Rückhaltlosigkeit".

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    3. Werde mir das noch einmal genauer ansehen. Mich würde vor allem der Weltanschauungscharakter interessieren, also, was der beinhaltet und was er auf der anderen Seite wiederum ausschließt. Das wäre die Befürchtung: dass ein zu starker Naturalismus sich vorschnell einer bestimmten, positivistischen Nüchternheit verpflichtet sieht, die ihrerseits über das Ziel hinausschießt. Aber das könnte natürlich eine Fehlbefürchtung sein.

      Welcher Form sind denn die ethischen Argumente, die aus solch einer Position vertreten werden?

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    4. Das lässt sich wohl am besten dem "Manifest des evolutionären Humanismus" von Michael Schmidt-Salomon entnehmen. Der schmale, gut lesbare Band ist zwar mittlerweile 10 Jahre alt, aber noch größtenteils aktuell. Auf der Stiftungs-Website werden daraus die "Zehn Angebote" zitiert die am Ende des Buches vorgeschlagen werden:
      http://www.giordano-bruno-stiftung.de/leitbild/zehn-angebote

      Hilfreich sind vielleicht auch die FAQ zur Stiftung:
      http://www.giordano-bruno-stiftung.de/leitbild/10-fragen-antworten

      Das "Manifest" ist natürlich nicht 1:1 übertragbar auf andere humanistische Vereine wie den HVD oder die HU, aber vieles dürfte sich überschneiden. Auch international sind viele ähnliche Vereine in der IHEU vernetzt.

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