Mittwoch, 26. Juni 2013

Innenausschreitung - Beiträge zum Geheimnis (der Poesie)

Früher, wenn Menschen ein Geheimnis hatten, das sie nicht teilen wollten, kletterten sie auf einen Berg, suchten einen Baum, schnitzten ein Loch hinein und flüsterten das Geheimnis in das Loch. Danach verschlossen sie es mit Lehm, auf das niemand es jemals erfahre. 
(Wong Kar-Wai, 2046)
[Übung: Leicht semantisierbarer Rauschraum]
Eine Theorie der poietischen Ursuppe als Spaziergang in Worten. Beim Abschreiten der Grenze der Sagbarkeiten. Grenzen der Sinngenese. Wo man der eingetretenen Sicherheit der Nomina noch nicht vertrauen will, Sinntrampelpfade vermeiden. Vorsichtig genauer hinspüren ("Trägt das denn?"). Auf Impulse auf der Lauer: Lynch wartet als meditierender Fischer des Bewusstseins auf zögerlich anbeißende Motive: erste Bilder, eine Szene, abgeschnittenes Ohr oder halb geöffneter Mund, eine Anziehung zu Rot und wehendem Stoff; während Musil "eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt" (MoE).

Eindämmernde Halbworte, scheinbar mit Bedeutung schon vollgeladen. Vorahnungen innerer Beweglichkeiten. Mantische Vektoren. Ein leises Ziehen nach vorne links: ruhiger Rhythmus, bedächtig oder eher eilig, Vagheit und Ahnung. Impulsen nachgehend. Auf Orientierung der Räume warten. Bieten sich Richtungen an? Beginn der Innenausschreitung: Sich um einen Turm herum verlaufen ("Mein einfachstes Labyrinth"; Ein Kapitän auf kleinstem Schiff). Spontane Stiftung von Feldern: Heim- und Unheimlichkeiten. Überall hier herrscht hohe Kitschgefahr, natürlich, schnell ist man in unangebrachte Hochtöne umgekippt, feierliche Hochgesten. Die Orte labil. Wo liegen die Bezüge? Noch- und Schonbezüge, einladende Oberflächen, eine Befreundung für Plastikplane plötzlich. Überall Vorsicht geboten. Aber man fängt an zu verstehen, dass etwas überhaupt etwas bedeuten kann: Grund und Finalität, das projektierende Selbst. Ansätze einer Theorie der Mythopoiese. Noch verrauschte Semiosen, präkomplexes Gewebe. Eine Reihe Stöcke waagrecht in Form einer Pyramide legen; das scheint schon fast etwas zu sagen. Symbol ohne Gegenüber, ungefügter noch. Bindungsbereit vielleicht, vielleicht noch deutlicher semantisierbar. Vielleicht etwas Konkretes dazustücken, damit es nicht ganz ins Diffuse abgleitet. "Denn aller Reichtum [der Einbildungskraft] bringt in ihrer gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor." (Kant) Da einfacher, A und B als greifbare Vergleichspunkte anzubieten und dann nur nicht zu sagen, wie: Rätsel ohne Lösung basteln:
- Ein schweres, Sir!
- Hier ist das Rätsel, sagte Stephen.

Es krähte der Hahn
Zum Himmel hinan:
Der Glocken Klagen
Hat elf geschlagen.
´s ist Zeit, dies arme Seelchen
in den Himmel zu tragen.

- Was ist das?
- Was, Sir?
(Joyce, Ulysses)
Oder aber auch Textgefüge als Bewegung. Die Vorstellung aufgeben, man könnte einen Text durch einen anderen ersetzen, der besser sagt, was er selbst schon sagt -- sich vom Begriff der Interpretation als Vernichtung der Texte befreien. Schreibt doch lieber selbst!
Aber du deutest doch an,—suchte sich Aeins vorsichtig zu vergewissern—daß dies alles einen Sinn gemeinsam hat?
Du lieber Himmel,—widersprach Azwei—es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!
(Musil, Die Amsel)
Die semantische Kluft ["semantic gap"], der Unterschied zwischen Flüstern und Rauschen, als innere Sinnaufspreizung im unmarkierten Geräusch: am Anfang wüst und still, dann zwischen Sicht- und Unsichtbarem unterscheiden, bloß die eine Seite markiert. Brownsche Protologik als Schöpfungsmythos zweiter Ordnung: Wer macht welche ersten Unterschiede? Hilfreich hier für dIen LyrikerIn: Phänomenologie als Innenausschreitung, Begehung der Weltinnenräume. Stößt aber bei meditativer Sorgfalt von innen her an keine Wände einer Generalthesis, eher diffuses Generaldatum als weicher offener Rand des Erlebens. (Husserl hier unaufmerksam gewesen? Oder ihm bloß die Sprache im Weg?). Rauschraum: eher unbestimmte, nebulöse Atmosphären, in/äußerliche Resonanzangebote aus pränominaler Diffusion, keine individuierte Aktuierung (wie erkenne ich einen einzelnen Bewusstseinsakt?). Schließen der Augen und Fokussierung auf Geräusche erleichtert den Eingang in vorkonkret gelöste Ontologie. Hier erst noch keine Gegenstände. Dann aber doch auch Ansätze für Knoten im präepochalen Fluid, Intensitäten verklumpen sich zu stabileren Zurechnungseinheiten. Könnte ein Zug sein, könnte ein Tier sein, oder überhaupt halt Artikuliertes irgendwie. Ließe sich aber alles auch anders zusammenstellen, solange man noch nicht pragmatisch damit umgehen muss: Gegenstände als erste "Notbehelfe zur vorläufigen Orientirung und für bestimmte praktische Zwecke" (Mach, Analyse der Empfindungen). Manipulierbarkeiten. Eine Wurzel Stolperwiderstand. Der Lyriker: Jäger unerwarteter Intensitäten als textlich hergestellte Widerstände des Denkens (Sätze, Rhythmen, Worte, Assonanzen). Wie Gedichte machen zwischen "(a) Drangsalieren des Materials, Ausbeuten des Mediums" und "(b) Errichten von Attraktoren"?
(a1) Jagdschein: Poetisieren von allem, was vor die Flinte kommt
(a2) Ausweiden: systematisches Abklappern einzelner Flurstücke, Techniken
(a3) Treibjagd: motivische Engführung, technische Zurüstung
(a4) Blattschuss: exaktes Präparieren, >Malen nach Zahlen<

(b1) Fallenstellen: architektonisch Herbergen, syntaktisch Trichter, motivisch Milieus
(b2) Arche- und Gehegebau: Rettung der Phänomene, Haltung/Ausstellung von Gedanken
(b3) Schädelschau: Beschwörung außersprachlicher Mächte
(b4) Trance: Jagd unter Einfluss von Alkohol, Müdigkeit, Ekstase
(Cotten, Falb, Jackson, Popp, Rinck, Helm aus Phlox. Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs, Erörtern!)
 [Re-Entry 5.5.12] 

1 Kommentar:

  1. "Da wir alles und jedes unablässig in unseren Modus übertragen müssen und sonst gar keine Welt begriffen, da wir überhaupt nur als pausenlose Weltbild-Erzeuger überlebensfähig sind, ist es kaum verwunderlich, dass Erschaffen und Herstellen, Poesie und Poiesis, als Fortsetzung und Maß des kognitiven Betriebs, zur Menschennatur gehört wie der Flug zum Vogel. Daher auch behauptete einst der Poet seinen Vorrang als der leistungsstärkste unter uns Transformatoren, die wir vom ersten Pulsschlag an eine Maschine der Erfindung sind und vom ersten Gedanken an etwas Unfaßliches zu verkraften haben.
    ... Bewußtseinsramsch ...
    Einsichten sind nur dann eine Freude, wenn sie flüchtig sind, wenn sie glitzernd die Stufen entlang fallen und wenn bedeutungslos viele aufeinanderfolgen, eine Schnur von Reflexen im Fluß. Im Grunde unerklärlich, wie man so lange an immer denselben, an einigen besonderen festhalten konnte - als wäre der Verstand ein Verfestiger oder Fotograf und nicht selber das Wasser. Die Kaskade. Nie sollte es um Erkenntnis gehen, sondern stets nur um die Schärfung des gedanklichen Gespürs, ja man soll den Verstand von seiner tierischen Wurzel: der Witterung ausstreben lassen. Das emsige Bezügeschaffen ist eine Nachahmung des Nestbaus und der ständigen Höhlenverbesserung. ... hin und wieder 'es öffnet sich' sagen dürfen statt abgerichtet immer nur 'es stimmt'."

    Botho Strauß, Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie, München/Wien 1992, 12, 14 f., 17.

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