Samstag, 16. Juni 2012

Alter als gelebte Konsequenz der eigenen Entscheidungen [Fortsetzung: Crashkurs "Selbstaneignung"]


("Nicht-Übderdenken!")
In unserem Crashkurs "Selbstaneignung" fehlte bisher noch eine gebrauchsfertige Theorie des Alters. Zwei Aspekte sollen dabei unterscheiden werden: Physiologische und existenzielle Dimension des Alterns.

I. Das Altern erscheint zunächst als ein physiologischer Vorgang, der unvermeidlich mit der Kontinuierung von Leben einhergeht. Sofern hiermit ein Abfall der physischen Leistungskurve verbunden ist, könnte man Altern einfach als Weiterleben unter erschwerten Bedingungen bestimmen. Wer so davon spricht, dass er//sie "alt wird", meint das subjektive Empfinden, dass der zu überwindende Widerstand zwischen Projektierung und Vollendung einer Handlung wächst. Die Treppe meldet sich auf einmal an einer Stelle als Welt-Widerstand, wo früher gar nichts aufgefallen war ("War die immer schon so steil?"), die Neuheit der Erfahrung verweist dann auf den eigenen Körper zurück. Analog zum "Altern" kann man dann auch von einem "Jüngern" sprechen, sofern erlebter Welt-Widerstand ("Realität") abnimmt.

("Du. Jetzt. Hier.")
II. Aber das zielt noch nicht in die existenzielle Dimension des Alterns hinein. In dieser erscheint das je eigene Alter als das Resultat einer Menge von Entscheidungen, die mit zu dem beitrugen, was als Welt- und Selbstsituation dem Einzelnen zu Bewältigung und Übernahme vorliegt. Selbstübernahme steht dann im Gegensatz zu Selbstabgabe ("abstrakte, diffuse Entantwortung"), in der der Einzelne seine Welt- und Selbstsituation zwar diffus belebt, sich aber doch nicht wirklich mit ihr abgeben will. Die Selbstabgeber_In lebt im unscharfen Gefühl einer Alternativität, die ihr derzeitiges Leben kontingentisiert. Sie hat das Gefühl, in einer bloß möglichen Welt zu leben, die offenbar einen der eher unglücklichen Welt-Würfe darstellt, und schlägt sich immer häufiger den Kopf an Balken an: "Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben." (Musil). Die Selbstübernehmer_In dagegen lässt keinen "Das bin eigentlich gar nicht ich"-Abstand zwischen sich und Situation aufklaffen, übernimmt das eigene Leben als Resultat dessen, was sie entschieden und damit auch als teils unerwartbare Konsequenz auf sich genommen hat [das ist insofern kein grundsätzliches Votum gegen Ironie, als dieser Abstand keinen Abstand zwischen Ego-Alter (Fremdbild) und Ego-Ego (Selbstbild), sondern ein Selbstverhältnis bezeichnet]; Kontingenzbewusstsein geht bei ihr also mit Selbstverantwortung überein. Vor diesem Hintergrund bedeutet Alter dann die gelebte Konsequenz der eigenen Entscheidungen. Diese werden nicht im Nachhinein als Fehler kontingentisiert, sondern lebend in der Abgründigkeit ihrer Konsequenzen "übernommen", die man als eigenes Leben (er-)trägt. Alt ist dann, wer getroffene Entscheidung nicht von sich selbst ab-rechnet (und sich so vergangenheitslos-gegenwärtig macht), sondern selbst (sogar gegen inneren Widerstand) übernimmt.

10 Kommentare:

  1. Alter - nativlosigkeit von Entscheidungen, ein Ausblick auf das wahre Alter. Kontingenz der Entscheidung als Jünger. Ganz wundervoll!

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  2. Es ist Er(n)st Jünger(,) (dann) A(e)lter.

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  3. ...Waralter Benyoungmin

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  4. wo steht es bei mir geschrieben, wenn es geschrieben steht?

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    1. Wenn es schon geschrieben liegt, ist es zu spät.

      Tausche gebrauchte Horizontale gegen neuwertige Vertikale.

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  5. Sie scheinen aus meiner Sicht ein schönes Ideal der Selbstaneignung zu beschreiben, nur fehlt bei der Übernahme des eigenen Lebens doch das Unbewusste vollständig. Oder das Erlebte, worüber ich gar nicht entschieden habe, das aber aus meinem Leben nicht einfach entfernt werden kann. Sich zwischen Alternativen zu entscheiden erfodert in der Regel eine (Art) rationale Rechtfertigung, und die zu übernehmen, scheint mir nicht schwierig zu sein. Schwierig sind, wie gesagt, die Ereignisse und Handlungen/Unterlassungen, die ich gar nicht entschieden habe. Dann fängt Kontingenz nämlich an, auch mal weh zu tun, und davon weiß ich noch nicht, ob ich mir das im Alter zumuten werde können.

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    1. Danke für den Hinweis! Ich glaube, Sie treffen mit Ihrer Bemerkung zielgenau den blinden Fleck der oben dargestellten Überlegungen. Dieser hängt möglicherweise mit der Präferenz des Identitätsideals "Autonomie" vor dem der "Authentizität" zusammen. Ich darf dazu ein anderes Selbst zitieren:

      "Die Frage nach der Authentizität einer Person entspringt einer anderen Perspektive als die nach der Autonomie einer Person und bleibt vom Standpunkt der Autonomie aus darum tendenziell unsichtbar. [...] Während Autonomie ein Ideal ist, das in die Richtung von Selbstkontrolle und -beherrschung zielt, steht bei der Frage nach Authentizität das eigene Fühlen im Vordergrund, welches - wie die Lebenspraxis häufig zeigt - nicht ohne weiteres dazu geneigt ist, sich an kontraktionelle Vereinbarungen oder willentliche Selbstverpflichtungen zu halten (ein Zug, den Theoretiker er Autonomie gerne zugunsten von Positionen ausblenden, die an einer willentlichen Manipulierbarkeit des emotionalen Haushalts festhalten). "

      (Ich selbst et. al., Autobiographische Erinnerung und Identität in der Moderne, 2011)

      Gerade das Unterlassen würde ich allerdings mit in die schmerzhaften Konsequenzen des eigenen Entscheidens (als Nicht-Handeln) miteinbeziehen wollen:

      "Glück ist das Mögliche in seiner Verfehlung: dasjenige Mögliche, das zu seiner Zeit unmöglich in Wirklichkeit umgesetzt werden konnte, dasjenige Mögliche, das einem Un-möglichen entspringt. Nur dies Glück, das un-mögliche, provoziert Neid. Denn Neid ist ein Affekt, der nicht einem Wirklichen gilt, sondern einem verstellten, nicht verwirklichten und deshalb immer noch offenen Möglichen. Woran der Neid sich entzündet, ist für Benjamin nicht das Glück eines Anderen, sondern das möglich gewesene und nicht wahrgenommene eigene Glück. [...] Glück ist eine kontingente Möglichkeit des Gewesenen, die sich für eine andere Zeit, zunächst also für diejenige Zukunft, die jetzt Gegenwart ist, bewahrt."

      (Hamacher, ´Jetzt´. Benjamin zur historischen Zeit)

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    2. Darf ich zwei Punkte kommentierend anmerken?

      a) Gehört es nicht bereits zur Grunddefinition des Unbewussten, dass man es sich nicht als solches aneignen kann? Auch nicht muss! Es ist ja immer schon da, ja "dabei", bloß eben unbewusst, also als es selbst (was nicht vorwerfbar ist).
      Jemand, der ganz authentisch zu sein scheint oder es gar wirklich ist, könnte ja jemand sein, der gerade dadurch souverän (nec superiorem nec interiorem recognoscans) wirkt, dass er verkörpert, dass sein "Unbewusstes" zwar da, aber nicht (vor)herrschend ist.

      b) Kontingent ist wohl nicht nur das, was ich nicht entschieden habe. Auch Entscheidungen sind - oft genug, wenn auch nicht immer - reichlich kontingent: etwa wenn Zeit und Kraft zum gründlichen Nachdenken fehlen; oder wenn man ohne Navi im Panzer weiterfahren muss in einer Welt voller Panzerfäuste; oder wenn eine hübsche Frau in immer kürzeren Abständen an ihren Haaren herummacht und man kann nicht immer noch mehr Aufschubsbier trinken, etc.

      Das Leben ist schön; trotz allem und Hamacher. Q.e.d.

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  6. Gib es mich denn überhaupt?

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  7. Ja klar, aber immer als Projekt. Ich ist Arbeit.

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