Dienstag, 7. Juni 2011

Luhmann über "Markentreue" in der Philosophie


Der unbarmherzige Beobachter lenkt seinen Blick auf die "Phänomenologie": ein kurzes Stück Theorie der Praxis der Theorie in Aktion:

"Denn dieses Konzept des im großen und ganzen erfolgreichen Wegs zur immer moderneren Moderne vermag angesichts schon sichtbarer Folgen kaum mehr zu überzeugen. Um so näher könnte es liegen, sich auf die Wiener Vorträge Husserls zurückzubesinnen und insbesondere den Grundgedanken einer selbstkritischen Vernunft abzustauben und neu, wie man so schön sagt, »ins Gespräch zu bringen«. Wenn es nicht Schwierigkeiten mit den Texten gäbe, die weder hermeneutisch noch analytisch so einfach übersprungen werden können! Das, was man hier liest, und erst recht die vielen Mißverständnisse, die, inzwischen am Markennamen »Phänomenologie« angewachsen sind wie Algen an einem schon länger zur See fahrenden Schiff - all das erschwert den unvoreingenommenen Zugriff auf die Grundidee der Theorie. Die inzwischen entstandenen Zweit- und Drittkopien, aber auch die von Husserl selbst gewählten Formen des Ausdrucks reichen nicht im entferntesten an die rigorose Konsequenz heran, mit der Husserl ein Interesse an Theorie vorstellt und gegen Bezweiflungen und Verzweiflungen aller Art, auch in den Wissenschaften selbst, verteidigt. Es muß uns ja nicht um Rettung des europäischen Menschentums gehen und vielleicht nicht einmal um Markentreue, was die Namen des transzendentalen Subjekts und der Transzendentalen Phänomenologie angeht. Selbst auf Vernunft könnte man gern verzichten, wenn man wüßte, wie das Interesse an theoretischer Reflexivität zu retten sei. Denn es gibt in diesem Jahrhundert nur wenige Beispiele eines so entschiedenen Interesses an Theorie. In der Soziologie wäre Talcott Parsons ein weiterer Fall (der aber mit Phänomenologie, so wie sie ihm vorgetragen wurde, aus nachvollziehbaren Gründen nichts anfangen konnte). Es sollte sich daher lohnen, genauer hinzuschauen und herauszufinden, wie Theorien in dieser Anspruchslage gearbeitet waren - gleichviel ob man daran erkennt, wie man weiterarbeiten kann, oder ob man sich gewarnt sieht angesichts der Folgelasten bestimmter Theorieentscheidungen." (Aus: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie)


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