Samstag, 26. November 2011

Kleine Phänomenologie der Atmosphäre


"Halbdinge mit höchstens abgründigen Richtungen sind auch die Gefühle. Man hält sie sonst für private Seelenzustände, entweder für gegenstandsblinde Modifikationen von Lust und Unlust oder für intentionale Akte. Ich betrachte sie dagegen als räumlich ergossene, leiblich den Menschen ergreifende Atmosphären, vergleichbar der feierlichen, drückenden oder zarten Stille, die in verschiedenen Graden Weite, Gewicht und Dichte hat. Diese Auffassung kann natürlich nur einleuchten, wenn man sich vom metaphysischen Bann des naturwissenschaftlichen Weltbildes frei macht, das zwar für Prognosen nützlich ist, für gute Phänomenologie aber eine zu schmale Abstraktionsbasis besitzt. [...] Scham imponiert zunächst als Privatsache des Menschen, der sich schämt; es kommt aber auch vor, dass jemand sich für sein beschämendes Benehmen gar nicht schämt, die Anwesenden sämtlich oder teilweise aber statt seiner peinlich berührt sind. Dann kann keine sympathetische "Gefühlsansteckung" vorliegen; vielmehr schlägt die Scham selbst als eine durch das beschämende Verhalten geweckte Atmosphäre in abgeschwächter Form zu den unschuldigen Anwesenden, die gleichsam am Rande der Scham stehen, als Peinlichkeit hinüber [...]. Ein Froher, der unvorbereitet an eine Gruppe tief trauriger Menschen gerät, wird bei einigem Feingefühl etwas gehemmt und dämpft seine demonstrative Fröhlichkeit nach außen; ein Frischer, der an lauter Matte gerät, wird nicht so spontan gehemmt, sondern eher geneigt sein, sie, wenn er etwas von ihnen will, durch Zuruf oder Zugriff aufzurütteln."
(Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen)

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