Samstag, 11. Februar 2012

Die Geburt der Fahrlässigkeit aus dem Geist der Selbstentlastung


(Beschwerte Individualität)
Gehäuse und Widerstände III

Die Abfall des Realitätsdrucks im Inneren der Kulturgehäuse bringt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit "fahrlässige Individuen" hervor. Realitätsdruck meint dabei diejenige Form von Nötigung, die ein Individuum (beispielsweise durch die Verknappung von Ressourcen (im einfachsten Fall: Reduktion von Komplexität durch das Verstreichen von Zeit) oder direkte Konfrontation mit Gefahr) unausweichlich zum Treffen konkreter Entscheidungen nötigt, sofern es überhaupt ähnlich wie bisher weitermachen will. Die Kultur dient hier gleichsam als ein Schutzwall, an dem die heranbrandenden Realitäten locker auslaufen, ihre erste Wucht verlieren können, um dann als seichte und unbedrohliche Ereignis-Wellen (vermittelt beispielsweise durch öffentliche Medienkanäle) die Kulturinsassen zu erreichen. 

Ein in eine allzu stark ausgebildete Ernstabschottung geborenes Individuum bekommt allerdings selbst von diesen Wellen kaum noch etwas mit. In warme Gehege einkuschelt erlebt es seine Welt als einen Raum der diffusen und semi-relevanten Optionen:
Wir treiben auf dem Ozean der Appetite, Erlebnisbereitschaft hat die Welt entgrenzt. [...] [Der moderne Verbraucher ist] nicht mehr zur Freiheit, sondern zur Frivolität [verurteilt]. Frivol ist, wer ohne ernsten Grund in der Natur der Dinge sich für dies oder das entscheiden muß [...]. Alles geschieht im Bewußtsein dessen, daß es ebensogut anders ginge. Ästhetik -- die Komödie des Bevorzugens.
(P.S., Falls Europa erwacht) 
Er treibt bewusstlos -- weil wenig entscheidungsaffin -- durch seine Gefilde, er muss keine Konsequenzen "ein für allemal" auf sich nehmen, er driftet fahrlässig als buntes und lustiges Möglichkeitsknäuel ohne ernstzunehmenden Verwirklichungsdrang durch die sich ihm gerade anbietenden Passagen und Programme, lacht fröhlich unentschlossen vor sich hin.
Steigt nun allerdings der Realitätsdruck im Selbst- und Kulturgehäuse wieder an, müssten auch die entsprechenden Ernstfallprogramme dem Einzelnen bei der Bewältigung dieses Drucks wieder beistehen, ihm konkretes Entscheiden irgendwie ermöglichen. Für fahrlässige Individuen beginnt an dieser Stelle das Problem: Ihnen steht kein Sensorium zur Erkennung des Ernstfalls mehr zur Verfügung, sofern sie bisher nur beliebig an sie herangespülte Optionen ohne allzu hohen Ernstwert kannten. Die Bedrohung "geht an ihnen vorbei", oder sie wollen es schlichtweg nicht akzeptieren, dass ihr freie Optionalität durch Restriktionen von außen begrenzt werden könnte und beginnen -- wie man heute sagt -- zu "prokrastinieren". Prokrastination wird möglich und wahrscheinlich, sobald das Unterlassen von Entscheidungen nicht mehr als eine Bedrohung des Weitermachens wie bisher erlebt wird, sobald der erlebte Realitätsdruck unter ein bestimmtes Engagierungs-Niveau gefallen ist. Die Entscheidungen werden an ihrer Stelle dann von der verstreichenden Zeit und den so verunmöglichten Möglichkeiten wie von selbst getroffen. "Not der Notlosigkeit" hat Heidegger das genannt, die "Schwierigkeit der Wiederbeschwerung der Welt" könnte man das Problem heute vielleicht nennen.  

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