Dienstag, 8. Mai 2012

In der Höhle des Luhmann: Ein literarisierender Gang in die Impulsmasse der Systemtheorie


Behutsamer Luhmann: ©teutopress, Stadt OE: CC BY-SA 3.0
Es ist nicht lange her, dass der alte Luhmann auszog, um den drei schrecklichen Gorgonen (Medusa, Euryale und Stheno), die draußen in der Wildnis ihr nicht ungestraft beobachtbares Unwesen trieben, den Garaus zu machen. Unter den Stadtbewohnern hatte er immer als ein Langweiler gegolten, "feiger Weltvermeider". Einen "Fuchs, gefangen in seinem eigenen Bau", nannten ihn mit kritisch ressentimenteller Attitüde die Leute, die gleichwohl fasziniert und sorgenvoll auf den "unmenschlichsten aller Philosophen" ("Ein Allosoph ist das!") stierten. Doch als er auf einmal auszog, um das Entparadoxieren zu lernen, waren alle äußerst irritiert: an seiner Eingangstür firmierte anstelle seiner Adresse ein Zettel mit folgenden Lettern:
Man nimmt sich, wie Perseus, die Medusa vor; oder man versucht, ein abgegrenztes Feld unter Kultur zu halten und gar nicht erst in die Wildnis auszuziehen. Ein echter, an Welt und damit an sich selbst interessierter Philosoph ist mit diesen Auswegen noch nie zufrieden gewesen.
Schriebs, stellte es als Selbstbeschreibung aus, und zog alleine weiter von dannen. In seinem Kopf Operationen und Gedanken an all diejenigen, welche, vor ihm, schon dem Paradox erlegen waren, die ganze bunte Schaar wirr gewordener Vorgänger, gefangen in ewiger Sthenographie, zu Stein erstarrt beim Anblick transzendentalisierter Widersprüche ("Wer ist das Ereignis? Wer ist der Fremde? Wer ist der Andere?", rufen sie müde bis heute durcheinander in den ewigen Hallen der Theorie und zeigen einander an ihren Köpfen vorbei), Luhmann überlegte:
Über Nietzsche und Heidegger bis zu Derrida hat sich inzwischen ein ganz anderer Umgang mit Paradoxien eingebürgert. [...] Die Pardoxien werden nicht vermieden oder umgangen, sondern vorgeführt. Sie werden mit Hingebung zelebriert. Sie werden in einer wie immer verdrehten Sprache zum Ausdruck gebracht. Fast glaubt man, die Absicht zu erkennen, die Gorgonen wie ein Schild zu benutzen, sie vor sich herzutragen, um andere damit zu erschrecken. Erst dies ist nun eigentlich Sthenographie.   
Erstarrte All-Erschrecker, Apologeten der Folgenlosigkeit, Mühlmänner schwerster Satzmühlen. "Und sehen sie [denn] die Leere, das Schweigen, die Weiße des Papiers" gar nicht, die vor all dem liegt, was sie da betreiben? Verstehen sie, wo das alles herkommt? Sehen sie denn nicht die "Engpässe, Risiken und Gefahren, auf die das ganze Menschheitsunternehmen Sinn zuzulaufen scheint"? "Es will einem dies vorkommen wie der Tanz ums goldene Kalb angesichts eines bereits erfundenen, wenn auch nicht näher bestimmbaren Gottes." (Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung) All diese Sthenographen beeindrucken doch nur "hauptsächlich Literaten und, in gewissem Umfange, Philosophieexperten [...], und Beobachter der Szene können bereits die für Gorgonenbetrachter voraussagbare Erstarrung feststellen. Das kommt davon!" Gefangen in der eigenen Geste, ihrem diffusen Selbstentgründungstaumel.

Sein Weg, das wurde ihm langsam klar, führte nicht zurück in ein anderes Außen, er würde nichts Neues gründen, keine neue Transzendenz errichten, seine Reise zielte genau in den flüssigen Kern der Sache selbst, magmatisch zähfließende Urbewegtheit. Mit der richtigen Zeitauflösung driften überall nur Flüssigkeiten: Zeitraffer Plattentektonik. "Das >Feste< wird dann auf das >Fließende< gegründet" (Luhmann). Weder Vermeidung noch Anbetung der Paradoxie, kluge, deblockierende Paradoxieplacierung ist am Platz, eine Paradoxieplacierung, die "mehr oder weniger geschickt vorgenommen, mehr oder weniger deblockierend wirken, mehr oder weniger fruchtbar sein kann."

(Gorgonin)
Er war auf seinem Weg angekommen. Hinter der nächsten Ecke verbarg sich Euryale, obwohl Luhmann das eigentlich nicht genau wissen konnte, aber er konnte ja nicht, wie all die anderen vor ihm, "den Blick ins Paradox [...] wagen und dann im postmodernen Erstarrungstanz sich selbst [...] opfern", er musste Euryale an ihr selbst vorbei beobachten. Dazu bediente er sich -- Odysseus am Mastbaum -- eines einfachen Tricks: er öffnete die Augen, trat einen Schritt nach vorn und blickte sorgsam um die Ecke, um nicht Euryale, sondern sich selbst dabei zu beobachten, wie er sie zu beobachten versuchte:
[Aber] was beobachtet ein Beobachter, der einen Beobachter beobachtet, der die Einheit, an der er selbst teilnimmt, zu beobachten versucht? [...] Die Paradoxie lässt den Beobachter oszillieren, nämlich ganz kurzzeitig (aber immerhin: kurzzeitig) zwischen der einen Feststellung und ihrem Gegenteil pendeln. [...]
Als Soziologe wird man der Meinung sein, daß dies letztlich auf Gesellschaft (und damit auf ein System in einer Umwelt) verweist als Bedingung der Möglichkeit des Beobachtens von Beobachtungen.

Aber ein Künstler zum Beispiel könnte es anders sehen.
[Alle unbezeichneten Zitate aus: Luhmann, Sthenographie]

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