Freitag, 1. Juni 2012

Unschärferelationen - Lob der Unentschiedenheit II


Explizierbarkeit vs. Formverlust
Man betrachtet die Wirklichkeit, indem man sie metaphorisiert.
(Gaston Bachelard)
Wenn Dinge verwickelter sind, muss ihrer Darstellung auch eine andere Schreibweise entsprechen. Unschärfere Gegenstände bedürfen unschärferer Beschreibungen; sonst kann es leicht passieren, dass einem mit der Steigerung vermeintlicher Präzision auch der Gegenstand auf einmal durch die Lappen geht, man bei lauter feinverkörnten Genauigkeiten ankommt und sich -- wenn man sich in denen nicht schon gleich verfängt -- fragen kann, wo denn auf einmal abgeblieben ist, über was man eigentlich hatte sprechen wollen. Andere versuchen gleich von Anfang an aus dem Sagbaren zu verbannen, worüber man nicht genau genug reden kann und wollen lieber zu allem Unscharfen schweigen. Muster verschwinden mit der Steigerung von Auflösegraden -- um das zu wissen, muss man nicht selbst impressionistisch veranlagt sein:
Unsere Ausführungen werden dann ausreichen, wenn ihre Klarheit und Bestimmtheit dem vorliegenden Stoff entspricht; denn man darf nicht bei allen Erörterungen denselben Grad von Genauigkeit (to akribes) suchen, sowenig wie bei handwerklichen Produkten.
(Aristoteles)
In der Physik haben wir uns schon lange davon überzeugen lassen, dass bestimmte Sachverhalte nur mit einer gewissen Unschärfe in Erfahrung gebracht werden können, und sogar, noch schlimmer, dass der Versuch, bestimmte Größen genauer zu erfassen, unweigerlich dazu führt, dass an anderer Stelle die Unschärfe steigt. Selbst vom Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten hat man sich inzwischen überzeugen lassen, und tut dennoch bei konstitutiv unscharfen Gegenständen so, als müssten gerade hier -- und dann auch noch in den Geisteswissenschaften -- Vereindeutigungen immer möglich sein. Dabei riskiert man mit solchen eifrig voreilenden Schärfemaximen den Verlust der Redekompetenz über einige hochinteressante Themenbereiche: Atmosphären, Zeitgeist, Lebenswelt. Diffuse Gefilde des Denkens natürlich -- Vorsicht! Hier erhöhtes Diffamierungsrisiko:
Unsere Mystagogen spielen also mit dem Gespenst und dem Schleier, sie ersetzen Evidenzen und Beweise durch "Analogien" und "Wahrscheinlichkeiten"; das sind ihre eigenen Worte, Kant zitiert sie und nimmt uns zum Zeugen: Sehen sie selbst, das sind keine wahren Philosophen, sie greifen auf poetische Schemata zurück. Das alles ist Literatur."
(Derrida, Kants "Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie" paraphrasierend)
-- die Sprache wird weicher, weniger definitorisch, ausladender in der Auslegung [Wegbereitung] ihren Bedeutungs- und Assoziationshöfe: schwer, hier einen intensivierten Grenzverkehr mit der Literatur zu vermeiden, vor allem aber auch nicht nötig:
Der essayistische Gebrauch der Intelligenz ist eine zuerst unvermeidliche und später erst eine kultivierte Form der Kooperation mit dem Nicht-Festgestellten. [...] Wer in ihm eine Art "Erster Hilfe" des Denkens erkennt, begreift von ihm wohl mehr als der Kenner, der ihn als Verfeinerung genießt. [...]
Wo dieser Verdacht [ein Symptom von etwas Allgemeinem zu sein] sich konsolidiert, kann eine methodische Praxis beginnen, in deren Verlauf ein Autor sich selbst als Sonde für unklare Zustände im sozialen Raum benutzt.
(Sloterdijk, Medien-Zeit. Drei gegenwartsdiagnostische Versuche) 

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