Dienstag, 27. November 2012

"Denken heißt: Stolpern" - Eine längst überfällige Widerlegung des Kleistschen Marionettentheaters


Grafik: © BAuA
Stolpern ist, wenn es sich dabei um Personen handelt, eine entweder amüsante oder eine eher peinliche Angelegenheit. Wer stolpert, beweist, dass seine Geschmeidigkeit praktisch an eine ihrer natürlichen Grenzen geraten ist. Die geschmeidige Routine dagegen stolpert nicht, stottert und stammelt, ruckelt und hakt nicht, zögert nicht -- sie gleitet unirritiertbar und stetig in ihren Weichen Kurven resonant durch sich ihr anbietende Lebensweltgestalten. In ihrer äußerlichen Leichtheit verweist die Geschmeidigkeit dabei zugleich auf eine sie fundierende aber außerhalb ihrer selbst befindliche Tiefenschwere, die dem/der Gleitenden wie ein Bleilot von weit unten ihren Schwerpunkt verleiht [wie bei einem Schwebestativ]. Die Geschmeidige nach ihrer Geschmeidigkeit zu fragen hilft daher nicht viel: Geschmeidigkeit kann ihr Vergeschmeschmeidigungsgeheimnis selbst nicht sehen und noch weniger irgendwie erklären. Andersrum aber haben sich durch einen Überhang von Reflexion in Ungeschmeidigkeit verstrickt fühlende Individuen - Tölpel und Ungeschickte, Dichter und Denker - sich immer wieder einen Spaß daraus gemacht, allen anderen (und sich selbst) die Geschichte vom Verlust der Geschmeidigkeit durch Selbstbeobachtung und Reflexion zu erzählen.
Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst er war außerstande dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –
(Kleist, Das Marionettentheater)  
("Geschmeidig gestolpert")
(Foto: bighappyfunhouse; CC BY-NC-ND 2.5)
Die Geschmeidigen, die "erotisch Begnadeten" (Jean Clam) und die Leichtlebigen sollen also selbst - wenigstens einmal - als die eigentlich Stolpernden vordemonstriert werden. In Wahrheit [?] aber - so können wir heute deutlicher sehen als der verfahrene Kleist - ist das Ruckeln, Stottern und Stolpern der eigenen Selbstdarstellung nicht einem ehrenswerten und zugleich existenzbeschwerenden Übergewicht des grüblerischen Ernstes über das naive Involviertsein der Tiere und Trampel zur Last zu legen, das man wie einen Existenztverhinderungsausweis vor den Gesichtern der Unbelasteten schwenken könnte. Die Vorstellung, die eigene Unbeholfenheit sei zugleich die eigentliche Wahrheit auch der Geschmeidigkeit, diese nichts weiter als ein paradiesischer Zustand vor dem Verlust der Naivität, ist natürlich [?] nichts weiter [?] als eine Ideologie ungelenker Intellektueller, die alles Geschmeidige verachtend dieses insgeheim doch beneidigen.   
Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt.
(Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II)
Es sind aber eigentlich nicht die Tiere, die von den Schwerlebigen, den Behäbigen hier seitwärts eifersüchtig angefunkelt werden. Vielmehr ist es ihr eigenes Unvermögen - ohne die Investition von noch mehr Klugheit und Erklärung, die sie als ihre einzigen echten Werkzeuge begreifen - selbst geschmeidig zu werden. Der Mensch, der erklären und wissen will, der Mensch der Reflexion, erträgt es schlichtweg schlecht, dass Geschmeidigkeit kein Produkt seiner denkerischen Anstrengungen sein sollte. Er adelt sich also mit Vorliebe selbst durch seine Reflexion und formuliert beispielsweise: "Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt." (Kleist) Oder er legt fest, dass Dasein immer Schwer-Sein heißt:
Das Sein ist als Last offenbar geworden. Warum, weiß man nicht. Und das Dasein kann dergleichen nicht wissen, weil die Erschließungsmöglichkeiten des Erkennens viel zu kurz tragen gegenüber dem ursprünglichen Erschließen der Stimmungen, in denen das Dasein vor sein Sein als Da gebracht ist. Und wiederum kann die gehobene Stimmung der offenbaren Last des Seins entheben; auch diese Stimmungsmöglichkeit erschließt, wenngleich enthebend, den Lastcharakter des Daseins.
(Heidegger, SuZ)
Und dann? Es wäre vielleicht zu überlegen, ob das Geschmeidige sich nicht gerade deshalb so gut als Provokationsfigur des Denkens eignet, weil es auf die Grenzen der Machbarkeit durch Reflexion verweist. Die geschmeidige Bewegung scheint, wo sie nicht als Naturtalent wegnaturalisiert wird, mehr Ergebnis von Übung, Wagemut und Experimentierfreude zu sein als Resultat denkerischer Durchdringungen. Das Denkende hier häufiger zögern, mag die eigentümliche Korrelation von Bewunderung und Kritik begründen. So lange sie ihre Sorge hier aber nicht überwinden, bleiben sie an die Aporie gebunden: Es gibt kein geschmeidiges Leben im Denken. 

1 Kommentar:

  1. Es ist, nach Kleist, noch viel schlimmer: "Es gibt gewisse Irrtümer, die mehr Aufwand von Geist kosten, als die Wahrheit selbst."
    Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. K. Müller Salget, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1990, S. 555.

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