Sonntag, 6. Januar 2013

Distraktionsgesellschaft: Das Prinzip Ablenkung


(Foto: Grabthar; Lizenz: CC BY-NC-SA)
Ich hatte heute eigentlich etwas anderes vor, hab dann aber bemerkt, dass es gut wäre, doch mal wieder was zu schreiben. Über "Ablenkung" wollte ich ja eigentlich schon lang mal was schreiben, "Im Delirium der Distraktionen" oder so, ein Titel für das gehobene, hintergründig todernste und vordergründig heiter-ironische Untergrund- bildungsbürgertum, das hier ja etwa adressiert wird. "Delirium der Distraktionen", das klang mir dann aber doch zuu umständlich und bemüht, obwohl dagegen ja grundsätzlich gar nicht soo viel einzuwenden ist, aber so ein Titel soll ja ein Appetitanreger sein, ein Eyecatcher oder so, damit sich da möglichst viele von anziehen lassen - und ablenken, klar, damit die für drei vier Minuten Lektüre aus ihren sonstigen Lebensvollzügen aussteigen, die sie - neben den ganzen anderen Sachen, die sie so machen - erfolgreich durch den Tag zu retten versuchen. "Wenigstens dies und das sollte ich heute noch hinbekommen, wenn ich mich am Abend nicht schlecht fühlen soll." - eine große anonyme Ablenkungskonkurrenz, gegenüber der sich so ein kleines virtuelles Leseangebot da behaupten muss: "Handle stets so, dass du Andere von anderen Ablenkungen ablenkst!" - auch nur einer von vielen kategorischen Imperativen im gegenwärtigen Überangebot möglicher Ablenkungen. Ich imaginiere schöne neue Feuilleton-Buchtitel (ganz wie der gute Byung Chul-Han): "Ablenkungsgesellschaft" und entwerfe dafür schöne neue Inhaltsverzeichnisse: 
I.  Ablenkungsmaschinen
II.  Fernsehen, mitspielen und wegdämmern
III.  Betäubungsmittel
IV.  Droge und Delirium - Die Psychose als radikalste Ablenkung
V.  Die Ablenkung der Ablenkung
VI.  Der Ernstfall - Anderes, Ereignis
VII.  Einlenkung?
Aber die Texte selbst zu schreiben erscheint mir dann doch zu mühsam, das werden eh auch andere irgendwann machen, so oder so, und zwei drei Jahre Wartezeit kann die Welt da sicher noch gut verkraften. Oder stattdessen halt etwas über den Menschen als das "Animal distractionale": "Der Mensch ist das Tier, das abgelenkt werden darf.", "Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Ablenkung", "Der Mensch ist wesentlich abgelenkt." Und die Frage ist dann, wovon er da eigentlich immerzu abgelenkt wird. Vom Wesentlichen? Vom Notwendigen? Von dem, was eigentlich "ernst" ist!? Was heißt das überhaupt, ernsthaft "mit etwas beschäftigt" zu sein und wie sollte man ernsthaft und zielsicher unterscheiden zwischen dem, was "bloß Ablenkung" ist und dem, was dann als "ernsthafte Beschäftigung" übrig bleibt? Steht da im Hintergrund nicht die Frage nach dem, was "Arbeit" eigentlich bedeutet und ist nicht die "Arbeit" auch nur eine in den Ernst hineingezogene Ablenkung, eine bloß unter dem Register der Ernsthaftigkeit rubrizierte Ablenkung von...ja, von was eigentlich? [Dem Tod, hui, dramatisch!] Und weiter: und scheint "Arbeit" heute nicht für viele gerade darin zu bestehen, Dinge zu erfinden und anzubieten, die Andere von Anderem ablenken? Und wer etwas anbietet, was hinreichend viele Andere hinreichend viel von Anderem ablenkt, der kann von seiner Arbeit dann sogar leben. Aber das lenkt eigentlich schon wieder zu sehr von der Frage nach dem ab, was hinter der ganzen Ablenkung eigentlich das Wesentliche sein soll.
Das aktuelle Realitätsprinzip ist der Kampf um Anteile an Sichtbarkeit unter Bedingungen monitorialer Flächenökonomie. Also: Monitorfläche ist knapp, Aufmerksamkeit ist knapp, Kaufkraft ist knapp, wovon es in verzweifelten Ausmaßen zuviel gibt, sind Zeichen, Waren und Individuen, die ins Fenster wollen. Aus diesen Rahmengrößen ergeben sich die aktuellen Verfahren: Strategien des Aufblitzens: den ganzen Monitor für den Skandal; Strategien der Verdichtung: Formelkunst; Strategien der Kombination: die Erzeugung von Merkbarkeit durch Aufmischung mit Bizarreffekten.
(PS, Tau von den Bermudas)         

9 Kommentare:

  1. Was ist eigentlich die Pointe dieses Textes? Es gibt nur Ablenkung und nichts Eigentliches von dem abgelenkt wird, alles ist Schein und es gibt kein wahrhaftes Sein? Oder trägt er trotz der leichten Resignation immer noch die Hoffnung ins sich, dass es dieses Eigentliche von dem abgelenkt wird doch gibt? Im ersten Fall wäre schon das Aufwerfen dieser Problematik und Thematisierung als Ablenkungsprinzip selbst eine weitere Ablenkung unter vielen anderen. Im zweiten Fall müsste man irgendwann Farbe bekennen und benennen, was dieses Eigentliche oder Wesentliche ist. Wenn beides nicht der Fall ist, dann wäre der Text bloß eine Ablenkung von anderem und die Frage ist, von was wird abgelenkt?

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    1. hat den Eindruck, dass der Text einen Hinweis auf diese Frage gibt, der einem Bekenntnis nicht gleichkommt, einem solchen aber ähnelt. Er schreibt über die Adressaten: "hintergründig todernst" und nur "vordergründig heiter", er schreibt über das, von dem abgelenkt werden soll, vordergründig heiter: "[Der Tod, hui, dramatisch!]". Und er fragt, was der Sinn von Arbeit sei.

      Arbeit und Tod - hier scheint doch der Hinweis drin zu stecken, auf das, was das Wesentliche sein könnte. Also würde es gelten herauszufinden, was der Sinn von "Arbeit" jenseits der bloßen Ablenkung sein könnte.

      Also: Was ist eigentlich wirklich überhaupt zu tun? Oder mit Nietzsche: Von was wollen wir wollen, dass es ewig genau so wiederkehren können soll?

      Das wäre dann doch etwas, das wenigstens keine Ablenkung von etwas anderem mehr wäre.

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  2. Wenn es keine beobachterunabhängige Bestimmung von "eigentliches Ziel" und "Ablenkungen" gibt, dann könnte man beides vielleicht ansatzweise so unterscheiden: Das eigentliche Ziel ist immer das, was man vorher schon weiß als dasjenige, an dem sich ein bestimmter Prozess ausrichtet (telos) und das man folglich entweder erreichen oder verfehlen kann. Die Ablenkung ist dann dasjenige, was einem oder etwas an der Erreichung dessen (gewollt oder ungewollt) hindert, die stellt damit eine Form des Aufschubs (hiatus) dar. Soweit, so trivial. Interessant wird es dann bei den Fällen, wenn das "eigentliche Ziel" unerreichbar ist, aber trotzdem angestrebt wird oder wenn es kein eigentliches Ziel mehr gibt. Im ersten Fall verabsolutiert sich der Aufschub und (er)setzt sich dabei (an) die Stelle des Ziels (analog oder sogar identisch mit Freuds Figur der Sublimierung); im zweiten Fall gibt es nur noch mikrologische Distraktionen, sich gegenseitig immer nur hemmende oder fördernde Prozesse innerhalb eines nicht-teleologischen Ganzen (analog oder identisch mit Deuleuze/Guattaris Figur des Rhizoms).

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    1. Das ist in sich schlüssig. Aber wenn man auf der Grundlage einer beobachterabhängigen Bestimmung des „eigentlichen Ziels“ ausgeht, ist schon der Versuch es trotzdem zu versuchen problematisch. Eigentlich dürfte sich das ja dann nicht mehr angeben lassen. In diesem Fall stellt die telos-Figur aber das viel größere Problem dar - speziell die Annahme des Vorher-Wissens. Dieses a priori-Informiert-Sein ist doch empirisch überhaupt nicht haltbar. Wie soll das gehen? Ich kann mich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich genau diese unhinterfragte Annahme immer noch hartnäckig in der Philosophie hält. Und genau aus dieser Annahme, die immer stillschweigend mitläuft und an ein durchaus vorhandenes Begehren des Publikums appelliert, scheint die Philosophie heute ihre Legitimationsgrundlage zu beziehen. Das äußert sich darin, dass man immer noch meint die Philosophie hätte was zu der Frage beizutragen, wie das gute Leben aussehen soll. Heute kann man aber kaum noch ignorieren, dass man diese Frage sehr unterschiedlich beantworten kann und auch beantwortet wird. Die eine Antwort gibt es also nicht mehr. Vor diesem Hintergrund wird die genannte Legitimationsgrundlage der Philosophie äußerst fragwürdig, denn anscheinend glaubt sie immer noch diese eine Antwort geben zu können. Auch die telos-Figur trägt dazu bei diese Annahme aufrecht zu erhalten. Wenn das Ziel schon bekannt ist - egal ob kollektiv oder individuell - und wir nur zu abgelenkt sind um es zu erkennen, dann wird die Beantwortung dieser Frage zu einer Art Verkündung von universellem aber verschütteten Wissens, das der Philosophie geoffenbart wurde. Es dürfte klar sein in welchen Revieren man damit bereits wildert.

      Das ist zugegebenermaßen eine etwas übertriebene Darstellung. Aber ich hoffe das Problem ist klar geworden.

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    2. Der grundsätzlichen Darstellung des Problems würde ich zustimmen, doch würde ich zwei Einschränkungen vornehmen: DIE Philosophie, die das versucht, was damit problematisiert wird, gibt es nicht. Es gibt vielleicht Philosophien, die etwas Derartiges im Sinn haben. Darum aber ging es mir nicht und ich würde mich solchen Versuchen auch nicht anschließen.

      Was also könnte dann mit einer teleologischen Struktur gemeint sein, die nicht beobachterunabhängig ist? – In ihrem einfachsten Moment lässt sie sich vielleicht als eine funktionale bzw. pragmatische Struktur beschreiben, die durchaus auf verschiedenen Voraussetzungen beruhen kann:
      a) Auf Intentionen: Eine Erwartung bestimmt, was das "eigentliche Ziel" ist. Zum Beispiel: A will schlafen, B will essen, C will ein Haus bauen usw. Hier bestimmt der jeweilige "Wille" jeweils, was das Ziel einer Handlung ist. Der Wille lässt sich dann als eine Zweckursache bestimmen und wodurch sich die Zweckursache selbst bestimmt, dann nochmal eine andere (schwierige) Frage. Die Beobachtungsabhängigkeit ergibt sich durch die Intentionalität selbst.
      b) Auf Kausalität: Ganz physikalisch gesprochen ergibt sich die Zielgerichtetheit von Prozessen aus dem Eigensinn bestimmter Vorgänge. Zum Beispiel fließt Wasser immer talwärts, auch wenn ein Fluss keinen tatsächlichen "Willen" hat, ins Meer zu münden. Das Ziel beruht dabei nicht auf einer Zweck- sondern einer Wirkursache. Die Beobachtungsabhängigkeit der scheinbaren Teleologie ergibt sich dann aus einer Verbindung von Kausalität und Erfahrungswissen.

      In der Verbindung von Kausalität und Intentionalität lässt sich soetwas wie ein "eigentliches Ziel" bestimmen, auch ohne, dass man es in der oben problematisierten Weise ontologisieren muss. Um ein Haus zu bauen (c), muss ich beides (a + b) berücksichtigen und alles was (c) entgegensteht, lässt sich dann als eine Ablenkung beobachten (z.B. das Haus stürzt ein, weil es schlecht gebaut wurde oder ich bekomme es nicht fertig, weil ich nicht genug arbeite etc).

      Was auf diese Weise als "telos" bestimmt werden kann ist dann kein A-priori-Informiertsein, sondern eine funktionales Moment in einem Handlungszusammenhang.

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    3. Mit der Formulierung „funktionales Moment in einem Handlungszusammenhang“ kann ich als soziologischer Beobachter natürlich viel anfangen. Die Anschlussfrage ist aber, wieso könnten sich die Philosophien dafür interessieren? Da sind wir schon wieder beim Thema „in anderen Revieren wildern“ – auch wenn ich dieses Revier gar nicht im Blick hatte. Dass ich das jetzt thematisiere liegt einfach daran, dass ich den Eindruck habe, dass die gesellschaftliche Funktion der Philosophien als Meta-Thema in letzter Zeit immer mehr in den Fokus dieses Blogs gerückt ist und implizit fast in jedem Text mitläuft. Und die Beschäftigung mit den von mir angedeuteten Problemen kann einen Schritt näher zur Beantwortung der Frage nach der Funktion sein.

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  3. http://www.socialnet.de/rezensionen/cover/11256.jpg

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    1. "Das Wesentliche geschieht immer nebenbei."

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    2. "Ich habe mich oft gefragt, ob nicht gerade die Tage, die wir gezwungen sind, müßig zu sein, diejenigen sind, die wir in tiefster Tätigkeit verbringen? Ob nicht unser Handeln selbst, wenn es später kommt, nur der letzte Nachklang einer großen Bewegung ist, die in untätigen Tagen in uns geschieht? Jedenfalls ist es sehr wichtig, mit Vertrauen müßig zu sein, mit Hingabe, womöglich mit Freude." (Rilke)

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