Samstag, 9. März 2013

Abkürzungen für Umwege suchen: Virtualisierung

Sich Dinge selbst anzueignen kostet immer Zeit. Aneignungswege sind lang. Da ist es gut, wenn man Abkürzungen kennt. Kniffe (in Form von Merkreimen, Dekalogen, etc.), die entweder das Ziel schneller erreichbar machen, als man es eigentlich erwartet hätte (Aufsätze statt Bücher, Abstracts statt Aufsätze, Punchlines ["Schlagzeilen"] statt Abstracts lesen. Oder noch einfacher: schon wissen, was drinsteht, und gleich gar nicht mehr lesen), oder aber Apparate, die die notwendigen Schritte aus der eigenen Wirkungssphäre auslagern, indem sie sie in sich selbst einlagern ("Fernbedienungen"). Die Suche nach Abkürzungen für Umwege ist daher eines der Grundmotive, die hinter der Entwicklung der modernen Technik stehen. Ziele, die man zuvor noch nicht oder nur durch Investition großer Kraft- und Zeitreserven erreichen konnte, werden algorithmisch erfasst und in entsprechenden Devices apparativ verfügbar gemacht. Der Taschenrechner rechnet die Rechnung -- was man selbst noch wissen muss ist nur, wie man ihn ordentlich bedient; man muss also nur noch wissen, wie, nicht, wieso man zur richtigen Lösung kommt.
Das vermag Kunst und Methode. Sie überwinden die Unvollkommenheiten unserer geistigen Konstitution und gestatten uns indirekt, mittels symbolischer Prozesse und unter Verzichtleistung auf Anschaulichkeit, eigentliches Verständnis und Evidenz, Ergebnisse abzuleiten, die völlig sicher [...] sind.
Diese weitgehende Reduktion der einsichtigen auf mechanische Denkprozesse, wodurch ungeheure Umkreise auf direktem Wege unvollziehbarer Denkleistungen auf einem indirekten Wege bewältigt werden, beruht auf der psychologischen Natur des signitiv-symbolischen Denkens.
(Edmund Husserl)
Umwege abkürzen kann dann verschiedenerlei bedeuten. Es kann bedeuten, Wege, die man ohnehin beschreiten wollte, bequemer begehbar zu machen, oder aber auch, Wege erst freizulegen, die vor der Möglichkeit, sie zu beschreiten, noch gar nicht als beschreitbar in Betracht lagen. Es werden dann die Umwege erst erzeugt, die man sukzessive besser abzukürzen lernt. Aber man kann auch -- umständehalber -- noch einen Schritt weiter zurückfragen und bemerken, dass man um abzukürzende Umwege gar nicht herumkommt. 
Man kann Schemata erkennen, an anderen und an sich selbst, wenn man sie als kognitive Routinen nimmt, als Abkürzungen für etwas, das erläutert werden könnte. Aber auch dies wäre dann wieder ein Schema, das den Sachverhalt verdeckt, um den es letztlich geht. Angesichts der Unbeobachtbarkeit der Welt und der Intransparenz der Individuen für sich selbst und für andere ist eine Schemabildung unvermeidlich. Ohne sie gäbe es kein Gedächtnis, keine Information, kein Abweichen, keine Freiheit. 
(Niklas Luhmann)
Ohne vereinfachende Schematismen also keine Welt: die Erscheinung als kleinster Umweg zwischen Ding-an-sich und absoluter Erkenntnis. Das etwas nicht möglich ist, macht es nötig, dass es etwas anderes stattdessen funktioniert. Mit Umwegen fängt es also an; aber es sind notwendige Umwege, ohne die gar nichts in Gang käme. Der Weg zu den Sachen selbst führt immer nur an den Sachen vorbei um sie herum zu diesen zurück. Umweghafte "Devices" bilden sich heraus, "deren virtuelle Komponenten in operative Abkürzungen eingebettet [...] und somit invisibilisiert werden." (Jean Clam) Der Umweg macht sich selbst als Umweg unsichtbar (er präsentiert sich als Weg) und schaltet so weiterführende Selbst- und Weltoptionen zur potentiellen Begehung frei. 
Das eingeführte [symbolische] Element wird am Ende des operativen Ablaufs des "Device" zurückgenommen. Das Unterstellte wird nochmals negiert; der Umweg macht die Abkürzung des Umwegs selbst möglich.
(Jean Clam) 
Aber wo führen abgekürzte Umwege eigentlich hin? Und sollte, wer schnelle Umwege sucht, nicht besser Blicke durch Scheiben werfen? Oder gleich einen Spaziergang machen?
[Wiedereinschreibung vom 13.05.12]

7 Kommentare:

  1. Spazieren gehen, ist immer gut. Aber statt einer Antwort auf die letzte Frage, hier nur eine kleine Ergänzung der Zitatecollage:

    "Das vielschichtige Phänomen der Technisierung läßt sich reduzieren auf die Intention des Zeitgewinns. Rhetorik hingegen ist hinsichtlich ihrer Temporalstruktur von Handlungen ein Inbegriff der Verzögerung. Umständlichkeit, prozedurale Phantasie, Ritualisierung implizieren den Zweifel daran, daß die kürzeste Verbindung zweier Punkte auch der humane Weg zwischen ihnen sei. […] Es ist ein Mißverhältnis entstanden zwischen der Beschleunigung von Prozessen und den Möglichkeiten, sie im Griff zu behalten, mit Entscheidungen in sie einzugreifen und sie mit anderen Prozessen durch Übersicht zu koordinieren. […] Wir müssen den Gedanken an einen Bildungstypus zunehmend preisgeben, der von der Norm beherrscht wird, der Mensch müsse jederzeit wissen, was er tut. […] Ich unterstelle, das 'Bildung' – was immer sie auch sonst noch sein mag – etwas mit dieser Verzögerung der funktionalen Zusammenhänge zwischen Signalen und Reaktionen zu tun hat."

    Hans Blumenberg, der Philosoph der metaphorischen Umwege ... "Zu den Sachen - und zurück!" ... hier auf seinen "Anthropologischen Annäherungen an die Rhetorik"

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    1. Ein Lob der verzögernden Umwege! Aber vielleicht auch: Ein Lob des Zögerns vor den Auslösern:

      "In einer Welt, die immer mehr durch Auslösefunktionen gekennzeichnet ist, nimmt nicht nur die Auswechselbarkeit der für unspezifische Handlungen benötigten Personen zu, sondern auch die Verwechselbarkeit der Auslöser."

      (Hans Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung)

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    2. Bei der Stelle muss ich immer an meinen Großvater denken, der mit einem Taschenrechner den Fernseher abzustellen versucht...

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    3. Ich ging einmal abends aus dem Haus, und weil es schon dämmerte, habe ich intuitiv nach einem Lichtschalter gegriffen: Ankunft in der Wohnzimmerwelt..

      Dazu fiel mir noch ein Zitat von Ortega y Gasset ein, der den menschlichen Hang kritisiert, die Umwege hinter den Abkürzungen meist schneller zu vergessen, als er seine Geräte zu gebrauchen lernt:

      "Die Welt ist zivilisiert, aber ihre Bewohner sind es nicht; sie sehen nicht einmal die Zivilisation an ihr, sondern benutzen sie, als wäre sie Natur. Der neue Mensch will das Automobil und genießt es, aber er glaubt, es wächst von selbst an einem Paradiesesbaum. Im Grunde seiner Seele weiß er nichts von dem künstlichen, fast unwahrscheinlichen Charakter der Zivilisation und wird niemals seine Begeisterung für die Apparate auf die Theorien ausdehnen, die sie ermöglichen."

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    4. Naturalisierung als Kurzschluss ist Herabsetzung des Widerstands gegenüber Automatismen gegen Null. Affirmation als totale Entspannung, die an der Realität sich einen Funken ausschlägt, erst wenn die Routine versagt. Das Unbewusste: nicht nur der verdrängte Wunsch, sondern auch das konsolidierte Beobachtungs- und Handlungsschema, also das eigentliche Realitätsprinzip. Die zur Abkürzung geronnene Umwegigkeit des direkt nie zu Be-greifenden. Die Abbreviatur als Surrogat der Unzweifelhaften – Ich kürze ab, also bin ich (versichert): http://de.wikipedia.org/wiki/Umweg.

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    5. "Die ideale Maschine wäre eine [..], die in der Realisierung ihrer Effekte gar nicht mehr als Maschine auffällig werden würde, ein Apparat ohne Widerstand oder auch ein Effekt-Knopf ohne Apparat, der die gewünschten Resultate ohne sichtbare Zwischenschritte und ohne irgendwelche zusätzlichen Eingabeerfordernisse schon verwirklichen würde (vielleicht eine Art universaler virtueller Fernbedienung). Man kann sich fragen, ob der Grenzfall dieses Ideals (die unmittelbare und ruckelfreie Erfüllbarkeit aller willkürlichen Intentionen) nicht einer Abschaffung aller Widerstände, Widrigkeiten und Irritationen gleichkommen müsste, einer Abschaffung, die an die Stelle von Irritation, Anstrengung und geduldiger Einarbeitung das semi-benommene und immer affirmationsbereite Hindurchfließen durch Ströme angenehmer Affiziertheit setzt." (Zerstreuung und Konzentration - Skizzen zur Wiederbeschwerung der Welt)

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    6. "Ein Abweg liegt vor, wenn der Versicherte einen Weg einschlägt, der zunächst in die entgegengesetzte Richtung führt als zum versicherten Ziel oder an diesem vorbei weiterführt." (Wikipedia)

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