Montag, 4. März 2013

Die Definisierung der Gegenwart als Konsequenz der Kontingenz

„Ich will nur noch das lieben, was notwendig ist! Ja! amor fati sei meine letzte Liebe!“
(Nietzsche)
Gerne stellt man sich vor, dass die Dinge anders seien, als sie sind. Zu denken, dass Dinge eigentlich auch ganz anders sein könnten, als sie es jetzt sind, befreit vom Realitätsdruck, das Hereinholen des Virtuellen, Auch-Möglichen nimmt der Gegenwart den Anschein ihrer Unausweichlichkeit, welcher gemeinhin das Wirkliche vom Möglichen trennt. Mit-den-Gedanken-woanders-Sein, das Wirkliche als bloß Mögliches nehmen, wird so zum Konstitutivum des Hier-und-Jetzt, die Virtualisierung des Wirklichen verschiebt dieses Wirkliche in den Diffusionsraum virtueller Potenz. Alle Schwärmer, alle Träumer nehmen Teil an dieser einfachsten Virtualisierung der Gegenwart. Durch Vermöglichung des Wirklichen („Dass es jetzt so ist, wie es ist, ist ja eigentlich nur Zufall. Es könnte auch alles ganz anders sein.“) wird auch das Mögliche als Wirkliches („Es könnte jetzt auch anders werden.“) verunmöglicht: Vermöglichung der Wirklichkeit essen wirkliche Möglichkeit auf.

"Wirklich Mögliches vor einem
Abgrund virtueller Potenz"
Um als wirklich Mögliches zu erscheinen, muss Möglichkeit einen Anhalt haben an der wirklichen Wirklichkeit. Wird die von vornherein derealisiert, fehlt dieser Anhalt und wirkliche Wirklichkeit und wirkliche Möglichkeit driften gleichermaßen ins Beliebige der virtuellen Potenz - was dann noch bleibt ist der Utopismus des unendlich Anderen (das in dieser Wirklichkeit keinen Anhalt mehr findet). Wenn diesbezüglich (von sich selbst) sogenannte „Rechtsintellektuelle“ die „Zwangsneurose Ironie“ beklagen, so haben sie offenbar eine Form der Entwirklichung der Wirklichkeit im Blick, die sich ins Beliebige der Weltkomplexion zurückzieht („Hipstertum“), um nicht mehr tapfer und entscheidungsfreudig „nach vorn“ „eindeutig“ „Stellung zu beziehen“, und visieren dabei zugleich – edel und albern – Situationen an, in denen die Eindeutigkeit einer Entscheidung endlich wieder als „eigentlichste Möglichkeit“ (Heidegger) „ergriffen“ werden kann. Zwischen „Naivität der Wiedervereindeutigung“ und „Totalvermöglichung der Wirklichkeit“ besteht allerdings wirklich noch eine dritte Möglichkeit: Die "Definisierung" der Gegenwart.

De-finisierung der Gegenwart meint eine Ent-schließung der Situation, die man sich als eine Bewegung der Öffnung in die wirklichen Möglichkeiten der Situation hinein vorstellen kann. Im Gegensatz zur Hoffnung auf Finisierung der Wirklichkeit, die diese (endlich) zu einem eindeutigen Abschluss zu bringen hofft, dem man dann mit eindeutigen Stellungnahmen begegnen kann, meint die Definisierung der Situation eine Ent-stellung des Selbst, die sowohl das Selbst aus seiner finiten Stellung befreit als auch die Situation auf ihre wirklichen Möglichkeiten hin aufschließt. Das Selbst bezieht dabei also gerade nicht eine eindeutige Stellung, zu der es sich entscheidet, vielmehr entschließt (d.i. öffnet) es die Situation auf ihre wirklichen Möglichkeiten hin - Entschließung der Situation und Entsicherung des Selbst bezeichnen somit ein und dieselbe Bewegung. Von hier aus dann deutet sich die Möglichkeit eines „utopischen Fatalismus“ an, der sich weder ästhetizistisch an die Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen klammert, noch die Situationen komplexitätsscheu zu vorschnellen Wiedervereindeutigungen zu nötigen versucht, sondern aus der Gegebenheit situativer Kontingenz wirklich mögliche Anschlusswege freilegt:

Der utopische Fatalismus ist ein konkreter Utopismus.

9 Kommentare:

  1. Wo kommt das Konzept der De-Finisierung her? Bzw. wer hat das theoretisch ausgearbeitet und in welchem Werk. Beschäftige mich gerade mit Kontingenz und Freiheit, da scheint es gut hinein zupassen.

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    1. So weit ich weiß, ist das Konzept bisher noch nicht besonders gebräuchlich. Weitere Begrifferkundungen scheinen aber denkbar..

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    2. Die Wortschöpfung könnte in der Tat noch ganz brauchbar werden. Hatte heute ein Buch von Agambe in der Hand, wo sich mit dem Offenhalten als Menschliche Eigenschaft auseinandersetzt. War aber zu Faul das auszuleihen.

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    3. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich da einige Anknüpfungspunkte finden lassen. Etwa in Bachelards Konzept einer "offenen Rationalität" (die er einer "geschlossenen Rationalität" entgegenstellt), in Adornos Kritik am "identifizierenden [abschließenden!?] Denken". Aber dass das konkret ausformuliert wäre als Praxis des Umgangs mit Situationen, wäre mir nicht bekannt. Kann aber gut sein. Man müsste sich vielleicht noch konkreter überlegen, wie genau man sich "Definisierung der Gegenwart" als Praxis vorstellen könnte. Ich glaube, dass man da mit dem Gegensatz von "Entscheidung" und "Entschließung" (der Situation) erstmal recht gut und intuitiv arbeiten kann...

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    4. Der Googlegott sagt, dass das Konzept bisher nur ein einziges anderes Mal aufgetaucht ist, wie es scheint wohl aus Versehen: http://www.vibilia.rs/dokument_new.php?s=vesti&ID=5045484&lang=de

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  2. Ist halt die Frage, wie weit man mit der Heideggerianischen Begrifflichkeit in Konflikt kommt, mit dem Ent-Schließen, das dort zwar auch ein Offenhalten meint, aber wohl schon in einem sehr spezifischen Sinn.

    Bei Nancy findet sich in seiner Dekonstruktion des Christentums mit "Déclosion" ein ähnlicher Begriff. Werd mich ggf. mal bei Heidegger umgucken.

    Wie auch immer, danke für die Idee.

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    1. Ich denke, dass das Entschließen bei Heidegger grundsätzlich anders gebraucht wird. So weit ich sehe taucht es vor allem in "Sein und Zeit" und primär nur als Sich-Entschließen des Daseins zum eigentlichen Schuldig-Sein auf. Also ein Gegenkonzept zu dem, was man die Bewegung der "Entantwortung" nennen könnte.

      Vgl. SuZ S.298:

      "Aber woraufhin erschließt sich das Dasein in der Entschlossenheit? Wozu soll es sich entschließen? Die Antwort vermag nur der Entschluß selbst zu geben. Es wäre ein völliges Mißverstehen des Phänomens der Entschlossenheit, wollte man meinen, es sei lediglich ein aufnehmendes Zugreifen gegenüber vorgelegten und anempfohlenen Möglichkeiten. Der Entschluß ist gerade erst das erschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit. Zur Entschlossenheit gehört notwendig die Unbestimmtheit, die jedes faktisch-geworfene Seinkönnen des Daseins charakterisiert. Ihrer selbst sicher ist die Entschlossenheit nur als Entschluß. Aber die existenzielle, jeweils erst im Entschluß sich bestimmende Unbestimmtheit der Entschlossenheit hat gleichwohl ihre existenziale Bestimmtheit."

      Zwar scheint hier durchaus anvisiert, dass das Dasein in der Entschlossenheit sich auf Möglichkeiten und Unbestimmtheit hin entschließt, der Bewegungsrichtung nach scheint mir das aber weiter als Sicherung und Schließung - und vor allem als eine Aktivität des Dasein vorgestellt.

      Entschließung der Gegenwart/Situation als Öffnung und Entsicherung steht dem genau entgegen: Ent-schließung des In-der-Welt-Seins als Ent-Stellung des Da-seins zum Hier-sein (wenn man so will).

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  3. Der Entschluss ist sowas wie eine spezifisch menschliche Gründung? Aber genau diese Komplikationen meinte ich - vor allem habe ich von Heidegger viel! zu wenig Ahnung.

    Später wird die Ent-schließung schon als solche gebraucht. In Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (333):

    Die Offenheit ist:
    1. [...]
    2. [...]
    3. "das Offene als eröffnetes und sich öffnendes, das Umfängnis, die Ent-schließung."

    Der Entschluss des Daseins ist ja zudem keiner, der sich auf etwas Schon-Seiendes bzw. auf ein Schon-Sein bezieht, sondern es ist "das noch ausstehende Noch-Nicht des 'Seins' des Daseins und seiner noch offenen, zukünftigen Seinsmöglichkeiten, [...] zu denen das Dasein sich zu entschließen hat." (Oberthür, Johannes: Seinsentzug und Zeiterfahrung..., 2002: 164)

    Ich bin aber wirklich ein Heidegger-Laie - und die Zitate kein Resultat systemathischer Lektüre, sondern überblicksmäßigen Google-Books stöbern.

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  4. Noch eine Ergänzung, bzw. zu ein paar Blühten die der Gedanke getrieben hat:

    Zum Hintergrund: Ich beschäftige mich in meiner Magisterarbeit mit Freiheit bei Arendt. Arendt konzipiert ihren Freiheitsbegriff in starker Abgrenzung einer Vorstellung von Willens- und Wahlfreiheit und dennoch drückt er sich in Handeln aus, was aber nie souverän sein kann, sondern immer auf Andere angewiesen bleibt und immer veränderbar ist, ergo niemals abschließbar ist.

    In der post-strukturalistischen (politischen) Theorie wird das, was in einer nicht-diskursiven Erkenntnistheorie Handeln war, auf ein Entscheiden reduziert. Wenn auch in einer Unentscheidbaren Situation, d.h. der Versuch der Schließung, bei gleichzeitiger Unmöglichkeit der Schließung. Dieses Schließungserzwingen, ist - obwohl wie bei Derrida, als "passive Entscheidung des Anderen in mir" - immer noch der Versuch einer Schließung und damit der Entscheidung der Wahlfreiheit nicht unähnlich - auch wenn Objekt und Subjekt der Entscheidung nicht vor der Entscheidung konstituiert sind.

    Wenn wir jetzt dieses Ent-Schließen einführen - wogegen Arendt allerdings selbst in "Was ist Existenzphilosophie" etwas unsachlich polemisiert - könnte man Handeln in ihrem Sinne, genau als ein solches Ent-Schließen verstehen. D.h. als weiteres Offenhalten für der ohnehin nicht abschließbaren kontingenten Verhältnisse.

    Da fällt mir jetzt natürlich das Problem der Fixierung der Bedeutung bei Heidegger in den Rücken. Aber als Figur der Abgrenzung von der "unentscheidbaren Entscheidung", könnte es fruchtbar sein.

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