Freitag, 26. Oktober 2012

Mienenspiele - Versuch einer Typologie der Gesichtsverwendung


tl;dr: Genauere Beobachtungen von grimassierenden Gesichtern legen nahe, dass die Verwendung von Mimik sehr unterschiedlich an und in Situationen und eigene Stimmung gekoppelt werden kann. Nicht jedes Gesicht, nicht jede Art der Mimikverwendung wird in gleicher Weise an subjektive "Stimmung" und/oder "Atmosphäre" der Situation zurückgebunden. Gesichter sind also nicht immer einfach Ausdruck von Eindrücken, vielmehr sind sehr verschiedene Weisen der Gesichtsverwendung unterscheidbar: 

Das autonome (bzw. ausdrückliche) Gesicht

Das Subjekt als Koffer: Was steckt dahinter?
(Foto: Audringje / CC BY-NC-SA 2.0)
Autonome Gesichter koppeln ihren Ausdruck primär an das, was die jeweiligen Gesichtsverwender wahrscheinlich ihre eigene "Stimmung" nennen würden. Das autonome Gesicht ist von der Situation wenig affizierbar, schwere Grimmigkeit wird auch in der heiteren Situation im autonomen Gesicht höchstens durch den schmerzlichen Versuch eines Lächelns kommentiert, das sagt: "Ja, ich weiß, das wäre eigentlich amüsant, aber wie du siehst, bin ich in einer grimmigen Stimmung." Das autonome Gesicht nimmt sich das Recht, sich als Widerstand gegen die Atmosphäre der Situation zu behaupten. Andere müssen, sofern sie dafür einen Sinn besitzen, auf diese Widerständigkeit aufmerksam werden, um dann zu entscheiden, ob sie mit ihr umgehen wollen oder nicht. Etwa, indem sie versuchen, den Widerstand zu thematisieren ("Was ist denn mit dir?" oder "Lach doch mal!") oder auch, indem sie beschließen, den Widerstand zu ignorieren, was zur weiteren Entkopplung des autonomen Gesichts von der Situation führen kann.

Das kommentierende Gesicht

Das kommentierende Gesicht begleitet die Situationen als permanenter Kommentar. Zwar koppelt es seinen Ausdruck an die Gegebenheiten der jeweiligen Situation, so aber, dass es diese immerzu bewertend begleitet. Runzeln der Stirn, affirmatives Nicken oder zerknirschte Blicke zeigen an, wie der/die Gesichtsverwender_In die Äußerungen und Situationen im Augenblick erscheinen, sie ihm ge- oder missfallen, es Zweifel anmelden würde oder bestätigen will. Das kommentierende Gesicht entfaltet auf diese Weise eine Beurteilungshoheit, die andere Situationsteilnehmer auf Dauer beinahe unausweichlich in den Bann ziehen muss. Sie sehen im kommentierenden Gesicht ein permanentes Feedback, eine permanente beurteilende Rückspiegelung ihrer Äußerungen und werden sich, je nachdem, welche Rolle sie dem Gesichtsverwender zuschreiben, auf dieses Feedback einstellen. Beispielsweise, indem sie versuchen, den Gesprächsweg in die Richtung der affirmativeren Reaktionsdimensionen zu lenken oder auch, indem sie kritisch-zerknirschte Rückspiegelungen zu provozieren versuchen.    

Das immersive Gesicht

(Foto: baerchen57; CC BY-NC-SA 2.0)
Das immersive Gesicht koppelt seinen Ausdruck nicht an seine eigene "Stimmung", sondern ganz an die Atmosphäre der Situation. Es stellt einen seltenen Grenzfall dar, der tendenziell stark sympathetische, oder auch - auf der anderen Seite - unheimliche Effekte hervorruft. Das immersive Gesicht kennt keine Filtrationsfunktion, die von der "Subjekt"-Seite her die Situation entweder kommentiert oder ganz auf Ausdruck der "eigenen" Stimmung setzt, es liefert in diesem Sinn also keine Eigeninformation. Indem es den anderen Situationsteilnehmern keine Rückschlüsse auf den Zustand des Gesichtsverwenders erlaubt, destabilisiert es daher häufig Wahrnehmung und Äußerungen der Anderen. Wie ein diffuser Zerrspiegel wirft es nur das je Geäußerte in einen Strudel der Selbstinterpretation und -irritation hinein, der als Verständnis (mis)interpretiert werden kann. Das immersive Gesicht kann ein experimentierendes Gesicht sein, sofern es versucht, durch verschiedene mimische Angebote Reaktionen zu provozieren, die es dann situationsintern erkundet und auskundschaftet. Als abenteuerndes Gesicht macht es dann Expeditionen ins Innere der Situation, verbleibt dabei aber gleichzeitig in einem schizoiden Außerhalb oder - höchste Gesichtsverwenderkunst - in einem reinen Innerhalb ohne autonomen Eigenwert (das immersive Gesicht als Auge des Organlosen Körpers).

Das Spiegelstadium findet nicht statt:

11 Kommentare:

  1. Das "immersive Gesicht", das "anderen Situationsteilnehmern keine Rückschlüsse auf den Zustand des Gesichtsverwenders erlaubt", ist ein Konstrukt, sogar ein überaus leicht durchschaubares. Es ist ein (bloß) denkbares Gesicht. Sogar kann man Gründe vermuten, die solches Denken nahelegen: lauter Geheimnisse, die man bis zur Kapitulation (Geheimnisse gibt es nur auf Zeit; im Unterschied zu Rätseln) schützt, verteidigt.
    Insofern: Wirklich "haben" kann man ein "immersives Gesicht" kaum. Und das ist gut so. So nämlich verstellt Anderen nichts die (Ein)Sicht darein, was einem selbst fehlt oder zuviel ist. Die Bedingung der Möglichkeit von Ethos hängt damit zusammen.

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    1. "Das "immersive Gesicht", das "anderen Situationsteilnehmern keine Rückschlüsse auf den Zustand des Gesichtsverwenders erlaubt", ist ein Konstrukt, sogar ein überaus leicht durchschaubares."

      - Das ist ein überaus leicht durchschaubarer Satz. Sogar kann man darüber spekulieren, welche Sorge hinter solch einer Äußerung stehen könnte: Die Angst vor der Möglichkeit der Geheimnislosigkeit.

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    2. "Geheimnislos", wäre das ein Post-Subjekt? Super-Jekt?

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    3. Vielleicht ein Subjekt ohne Persona? Antlitz.

      "Säuglinge können schon im Alter von etwa einem Monat mit ihrem Gesicht und ihren Händen Gesten ihrer Mutter nachahmen. Neugeborene strecken ihre Zunge heraus, wenn ein Erwachsener ihnen die Zunge herausstreckt, den Mund öffnet oder große Augen macht. Diese Imitationsfähigkeiten werden nicht erlernt, sondern sind genetisch bedingt und ein Teil unseres evolutionsbiologisch bestimmten Erbes." (Wikipedia)

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    4. "Lange schlief Zarathustra, und nicht nur die Morgenröthe gieng über sein Antlitz, sondern auch der Vormittag. Endlich aber that sein Auge sich auf: verwundert sah Zarathustra in den Wald und die Stille, verwundert sah er in sich hinein. Dann erhob er sich schnell, wie ein Seefahrer, der mit Einem Male Land sieht, und jauchzte: denn er sah eine neue Wahrheit."

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    5. "Das ist ein überaus leicht durchschaubarer Satz. Sogar kann man darüber spekulieren, welche Sorge hinter solch einer Äußerung stehen könnte: Die Angst vor der Möglichkeit der Geheimnislosigkeit."

      Gott sei Dank! Durchschaubare Sätze streben viele redliche Denker an, vermutlich im Kern aus Respekt vor dem Verstehensbedürfnis und der Intelligenz anderer Leute. Ist das grundschlecht?

      Ferner, @geheimnisse: Das mag sein, dass jemand auf die Idee kommt, es gäbe eine "Angst vor der Möglichkeit der Geheimnislosigkeit". "Geheimnislosigkeit" gab und gibt es unter Menschen never ever. Wer bräuchte denn nicht auch, mindestens pragmatisch, auch Dunkel, nicht bloß Licht um sich herum, um erst mal man selbst zu sein?
      Vorläufig kurzum: Wer Denken und die daraus entspringenden Äußerungen im Potential ihrer Härte unterschätzt, sollte sich fragen: Wie kann man putatives Denk-Plack ankratzen - ohne in etwa stramme Geräte?

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  2. Vielleicht ist das so, und dann gehört in den "Versuch einer Typologie der Gesichtsverwendung" auch der Hinweis auf konstruierbare Optionen der "Gesichtsverwendung" (eigentlich auch schon ein ziemlich konstruierter Begriff, weil man sein Gesicht oft nicht "in der Hand" hat, es insofern also selten wirklich verwenden kann; wäre "Augengebrauch" nicht der bessere Begriff?). Jedoch: Woher weiß man - ohne begründend beigefügtes Argument - sowas Ausschließliches, was so empieriegesättigt klingt: "Nicht jedes Gesicht, nicht jede Art der Mimikverwendung wird in gleicher Weise an subjektive 'Stimmung' und/oder 'Atmosphäre' der Situation zurückgebunden. Gesichter sind also nicht immer einfach Ausdruck von Eindrücken" usw. Hat überhaupt irgendjemand, gerade im Sprachgestus, ohne weiteres das Recht, einen solch gesamtsituationshermeneutischen Ton angeschlagen?
    Der Punkt mit dem Ethos leuchtet ein. Wer aufeinander achten möchte, ethisch prinzipiell wie auch bloß hier und da mal situativ, kann wohl kein leitendes Interesse an "immersiven Gesichtern" in Gegenüber-Situationen haben. Man weiß dann ja schlicht nicht, wo man dran ist.
    Es fragt sich auch, ob Vertrauen oder, z.B., gar Befreundet-Sein auf Dauer möglich sind, wenn man sie zentral auf den Gebrauch immersiver Gesichter aufbauen wollte. "Abenteuernde Gesichter" sind zweifellos eine interessante Vorstellung; es klingt fast nach ganz großem Kino. Aber: Ob man, z.B., gemeinsam in einem Fass die Niagara-Fälle hinuntersausen wollen können möchte oder leher ieber nicht, entscheidet sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht am Gebrauch von Gesichtern allein. Mimik ist, wo es um echte Kommunikation geht, vielleicht nur ergänzend und präzisierend wichtig. Das heißt u.a.: Man kann vermutlich auch so kucken, dass der jeweils andere merken kann, was man zu sagen nicht geschafft oder nötig haben möchte, aber dann doch mitteilt.

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    1. "..man sein Gesicht oft nicht "in der Hand" hat, es insofern also selten wirklich verwenden kann"

      Wenn man Fahrrad fährt oder ein Werkzeug benutzt, hat man das (je nach Geschick) auch nicht immer einfach "in der Hand". Jede Verwendung setzt (könnte setzen) die Eigenart einer jeweiligen "Umsicht" (SuZ, § 15) voraus, bei der zwischen dem, was man "in der Hand" hat und dem, was "in der Hand gehabt" ist, nur sehr schwer unterschieden werden kann. Weder hat man sein Gesicht einfach "in der Hand" noch ist man der Willkür der eigenen Züge einfach anheimgegeben - das sollte mit "Verwendung" bezeichnet sein.

      "Hat überhaupt irgendjemand, gerade im Sprachgestus, ohne weiteres das Recht, einen solch gesamtsituationshermeneutischen Ton angeschlagen?"

      Eine be-rechtigte Frage, bzw. was sagt die Frage nach dem Recht eines solchen Tons eigentlich? Etwa: "Ist überhaupt empirisch ausgewiesen oder ausweisbar, was dort geschrieben ist?"? Wie müsste Empirie denn beschaffen sein, um zu solch einem Ton zu be-rechtigen? Und worin genau besteht der angesprochene "gesamtsituationshermeneutischen Ton"? An welcher Stelle spricht der Text "ausschließlich"? Sich selbst zumindest weist er als "Versuch" aus, nicht als ontologischer Katalog, damit sollte sein epistemischer Anspruch und Status einigermaßen umgegrenzt sein.

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  3. Nun, zunächst ein paar schlanke Bemerkungen zur Struktur bewusst oder unbewusst (quasi "durchflutschend") "ausschließender" Sätze.

    Let's take the example: "Nicht jedes Gesicht, nicht jede Art der Mimikverwendung wird in gleicher Weise an subjektive 'Stimmung' und/oder 'Atmosphäre' der Situation zurückgebunden. Gesichter sind also nicht immer einfach Ausdruck von Eindrücken" usw.

    Ent-sprochen ist dies wohl dem Willen zur Differenzierung. Es wird hier jdedenfalls deutlich auf Differenzierung gesetzt.

    Andererseits: Tatsächlich ausgesprochen, klingt der genannte Satz vielleicht in manchem Ohr dennoch schräg, nämlich nach Ausschluss der Möglichkeit, dass (genauso gut oder doch beinahe) eher das Gegenteil stimmen könnte: "Jedes Gesicht, jede Art der Mimikverwendung wird in gleicher Weise an subjektive 'Stimmung' und/oder 'Atmosphäre' der Situation (der aktuellen oder, ganzheitlicher, der ständigen?) zurückgebunden. Gesichter sind also immer einfach(?) Ausdruck von Eindrücken." Woher kann man wirklich "wissen", was präzis stimmt?

    Der zitierte Gag von Groucho Marx ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass es für Spiegelungsphänomene nicht auf bloße Spiegel ankommt (die gehen ja im Gag kaputt, während die Sache weitergeht). Wer das ignoriert, könnte eventuell die Pointe des Ganzen ein wenig missdeutet haben.

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  4. "Unterscheidungen verstehen sich nicht von selbst. Sie müssen gemacht werden. Das heißt auch: sie können gewählt werden. Man macht die eine oder die andere Unterscheidung, um etwas bezeichnen zu können. Jede Bezeichnung setzt eine Unterscheidung voraus – auch dann, wenn das, wovon sie etwas unterscheidet, gänzlich unbestimmt bleibt. Sagt man Sokrates, so meint man Sokrates und niemanden sonst. In diesem Falle fällt das, wovon das Bezeichnete unterschieden wird, mit dem zusammen, wovon die Unterscheidung selbst unterschieden wird. In anderen Fällen kommt diese Unterscheidung der Unterscheidung hinzu. Zum Beispiel wird etwas als groß bezeichnet, um es von Kleinem zu unterscheiden, nicht dagegen von etwas Leisem (laut/leise) und oder etwas Langsamem (schnell/langsam)."

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