Sonntag, 17. Februar 2013

Willkommen im Zeitalter der diffusen Vererbung!

Den „Zauberstab der Analogie gebrauchen“ lernen.
(Novalis, Die Christenheit oder Europa)
"Schlaglichter ins Diffusionsmilieu"
(Foto: Josef Türk; CC BY NC SA 2.0)

Genealogen schreiben Abstammungsgeschichten. Um an die Kerne der Sachen zu rühren, versuchen sie historisch bis in die Gründe zu gehen, die Quellorte und Urimpressionen zu finden, von denen aus die Sachen zu denen gewachsen sind, als die sie heute im stolzen Licht ihrer Gegenwart, fast geschichtsvergessen, dastehen. Die Genealogie der Gestalt ist der Versuch, die Sachen durch Nachzeichnung ihrer Genese ihres Plötzlichkeits- und Absolutheitsanscheins zu berauben. Eine Sache, die auf einmal mit Geschichte dasteht, verliert den Hauch von Totalität, der um jedes Eine, Wahre, Gute, Gegenwärtige weht. ("Wo kommst du her?" "Von wem stammst du ab?" "Warte nur ab, früher oder später erzähle ich dir deine eine, ganz gewöhnliche Geschichte.") Genealogie ist ein Verfahren zu Inkontinuierung (d.i. Eingeschmeidung) von Ereignissen und Sachverhalten - durch Genealogie wird dem Ereignis der kairologische Schleier von der Hüfte gezogen: Nicht plötzlich bricht von ganz wo anders aus das Andere auf einmal ein; das Ereignis erscheint bloß als letzter Schritt eines gewaltigen Anlaufs - und den zeichnet mit groben Strichen die Genealogie: Genealogie ist somit Entfaltung impliziter Anläufe. Wenn aber alles auf einmal mit Anlauf dasteht, die Geschichte vom ontologischen Urknall bis heute gezeichnet ist, ist alles ins Kontinuum der ontologischen Drift eingeschmeidet: Die Genealogie der Moral blamiert die Normativisten, die Genealogie der Ontologie brüskiert die Essentialisten, die Genealogie der Philosophie verärgert die, die sagen wollen "Das ist sie auf jeden Fall nicht!", die Genealogie der Genealogie schließlich reißt alles (und sich selbst) zurück in die Kontingenz.
  
Im Zeitalter der diffusen Vererbung aber verliert sich die bestechende Erklärungsstärke der Genealogie. Im Zeitalter der diffusen Vererbung kommen die Sachen nicht mehr aus stabilen Milieus und ontologisch überschaubaren Familienverhältnissen. Es scheint sogar umgekehrt, wer heute noch zu deutlich aus einer Schule und von konkreten Lehrern kommt, wer noch immer zu sicher das eine Prinzip in den Händen zu halten meint, sich von vornherein verdächtig zu machen: zu deutlich treten Lokalkolorit und die kindliche Anhänglichkeit an große Namen und letzte Gesten aus seinen Zügen hervor, ontologische Dorfburschen ohne allen Kontakt zur Stadt. Diffuse Genealogie dagegen besticht nicht mehr durch den Leichtsinn der Eindeutigkeit. Nicht eine Linie lässt sich mehr zeichnen, diffuse zufällige Selektion bestimmt die je eigene Mischung der Anteile. Was hast du wo gehört? Was hast du wo gelesen? Bei Ankunft am Zentralbahnhof im Zeitalter der diffusen Vererbung sieht man sich deshalb mit der Forderung konfrontiert, einen Großteil der liebgewonnenen Sätze im Abteil zu lassen, damit sie mit dem Zug zurück in die präkomplexe Gemütlichkeit linearer Abstammungen reisen: "Wie geht es heute weiter mit der Kunst?", "Was wird aus der Philosophie?" "Was treibt eigentlich die Wissenschaft?" "Wie steht es um die Kultur?" - die pompösen Supersingulare wanken gemütlich im Zug gen Heimat: kurz vor eins, Ankunft in Eindeutingen. Wer dennoch einige von ihnen durch die Kontrollen gemogelt hat, der sollte sie hier nur heimlich gebrauchen, in Seitengassen oder unter den auch hier noch operierenden letzten Untergrund-Absolutisten, unter denen "trotz allem" noch an der letzten Totalen gefeilt wird. Im Zeitalter der diffusen Vererbung aber herrscht schräge Gleichzeitigkeit, die Regierung über das Sein, die große "Ist"-Exekutive [d.i. "Geschick"], wurde - gemäß dem Prinzip der Subsidiarität - durch "regionalontologische Kollaborativen" ersetzt, die ihre Bewährungen je im Milieu erproben. Sprichst du noch mit, wenn ich sage: "Mein Kopf ist heute besonders weich."? Wenn ich sage: "Sie machte einen etwas schleirigen Eindruck vorhin", schenkst du mir einen anschließenden Satz ohne nachzuhaken? Anschlüsse werden hier nur gesucht, Resonanzen erprobt - kostabilisierte Harmonien geteilter Gesprächswege. Das identifizierende "Ist" in ein analogisches "Ist" überführt, der "Satz der Identität" durch den "Satz der Analogie" ersetzt. "Sokrates ist ein Mensch" klingt hier fast wie ein Zauberspruch, der auf den anderen Zauberspruch ""Der da" ist Sokrates" bloß verweist. Die Magie des analogischen Ist wird hier nicht weiter als "identifizierendes Denken" verteufelt, kein Vorbeigreifen an der eigentlichen Sache liegt vor. Das Ist betrügt nicht die Phänomene, es bettet sie nur ein in semantische Gefilde, sinnhafte Tieferlegung der Welt im "Sortal". Der Sinn von Sein wird verbal. Statt "ist" kann man deshalb hier auch überall "wird" sagen: 


"Es werde Licht" – "Sokrates werde ein Mensch", "Die Rose werde rot".
 

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