Sonntag, 5. Dezember 2010

"Dem Bewahren, Schönen, Guten": Ein offener, nachdenklicher Brief an den Verfasser


Lieber Herr Gustav Seibt,

vielen Dank für Ihren wundersamen Beitrag zum neuen Konservativismus im "Süddeutsche Zeitung Magazin". Da haben Sie nicht nur eindrücklich bewiesen, auf welche Höhen sich eine konstruktivistische Meta-Kritik im "Stile" eines "Ich erklär´ uns nochmal, wieso die da draußen alle so ängstlich sind" hinaufschaukeln lässt, sondern deuten auch gleich schon im gewählten Titel an, was sich mit unserer schönen guten alten deutschen Sprache so alles noch anstellen lässt, wenn man sich erstmal alle Hemmungen aus der Brust genommen hat: 

"Dem Bewahren, Schönen, Guten." - Das ist echt nicht mehr nur frech, das ist - und man kann das gar nicht anders sagen - umstürzlerisch. "Als Historiker", heißt es im Beitext, sähen sie auch das Konservative "historisch". Das klingt gut. Distanziert irgendwie. 

Aber, lieber Herr Seibt, was machen Sie da eigentlich in Ihrem Text?  

"Das Konservative zeigte sich in den letzten Jahrzehnten vor allem als Rhetorik und als Stil", heißt es am Anfang. Hm, okay. Das verstehe ich nicht ganz genau, aber es klingt wieder hübsch deskriptiv und ein bisschen überlegen auch: Meine konservative Rhetorik, dein konservativer Stil, unser, euer konservativer Stil. Das sollte man sich vielleicht merken: Dein modernistischer Stil ist mir etwas unangenehm. 

Aber inzwischen habe sich Ihnen zufolge deutlich was verändert. Denn, seit wir in Deutschland wieder Demografiedebatten führten, sei das Konservative nicht mehr nur "Diskurs- und Stilangebot" sondern ein "Reaktionsmuster". Nicht mehr nur wie bei Botho Strauß und so, sondern also richtig jetzt. Ja, also, ich muss gestehen: ich verstehe das wirklich nicht so genau, was Sie da eigentlich genau mit sagen wollen.

(Dass irgendwie eine bedenkenswerte Verbindung besteht zwischen Bahnhof, Bäumen, Brennelementen und Buschkowsky würde ich Ihnen ja einräumen, auch, dass hier überall der Begriff der "Konservierung" am Platze ist, ob man das aber als "Reaktionsmuster" [mit "behavioristischer Rhetorik" mag ich da gar nicht anfangen] beschreiben sollte, bezweifle ich nachdrücklich.)

Alice Schwarzer, Necla Kelek und der alte Sarrazin tauchen dann noch einmal grau und betreten am Seiten-Aus auf, blicken dem Leser ratlos ins Gesicht, und dann noch die Bemerkung, dass deren Publikum "weißhaarig und bildungsbürgerlich" sei. Und: "wer heute eine Wohnung mietet, schaut längst auch auf die Namen an den Klingelschildern" (ist das ein heimliches Rilke-Zitat?), das hat mich dann aber ernsthaft irritiert.

Das Schluss-Panorama soll dann offenbar ausgewogen und nachdenklich klingen: "Protestbewegung für die ganze Familie", dieser neue Konservativismus. Richtig auch, natürlich, der Protest, auf seine Weise, Naturschutz und so, das wird doch keiner ernsthaft bestreiten!? - Nee, auf keinen Fall. 

Und ans Ende dann noch ein erstaunlich (und ist das vielleicht schon wieder frech?) unvermitteltes Zitat von Ernst Troeltsch, "Theologe und Freund Max Webers 1896 bei einem Philosophenkongress"

"Alles wackelt" - und da habe er "recht behalten", der Troeltsch.

Schluss. - -

Ich war nach der Lektüre Ihres Textes äußerst inspiriert, auf eine dubios-verschrobene Weise bekam ich sogar Lust auf mehr Bildung und blätterte - beinahe ganz ohne eigenes Zutun - in Alfred North Whiteheads "Prosecco and Reality" und stieß dabei - mag es Zufall gewesen sein? - auf dieses schöne Zitat:

"THE chief danger [...] is narrowness in the selection of evidence. This narrowness arises from the idiosyncrasies and timidities of particular authors, of particular social groups, of particular schools of thought, of particular epochs in the history of civilization. The evidence relied upon is arbitrarily biased by the temperaments of individuals, by the provincialities of groups, and by the limitations of schemes of thought." (S. 512)

Das wollte ich Ihrem schönen Text einfach noch hinzufügen und verbleibe mit - nicht bloß rhetorischen - Grüßen,

der aufgewühlte Sprachdubitator

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