Mittwoch, 26. September 2012

Beim Verlust der rettenden Routine: Über beispielloses Schreiben


Ein Höchstmaß an Unbeholfenheit zeigt sich heute vor allem im Umgang mit allen Formen virtueller Text-Kommunikation. Als verhältnismäßig junge, nicht aus einem langen historischen Kultivierungs- und Reglementierungsprozess erwachsene Praktiken lassen sie (ob es sich dabei nun um hingetippte Pinnwand-Präsente oder hochgetunte E-Mail-Boliden handelt) ihre Nutzer in den allermeisten Fällen formal im Stich, indem sie die angemessenen Pfade ihrer Verwendung nur unscharf und innovationsoffen vorzeichnen und ihre Verwender so dazu zwingen, ihre Ausdrucksform, -floskeln und -modalitäten selbst zu wählen, was dann aber auch heißt: sie selbst zu verantworten. Darin liegt natürlich eine gewisse Chance, unerwartet unerhörte Kommunikation zu forcieren oder sogar zu erleben, wenn die denn irgendwer irgendwie nutzt. 

Mitunter und vor allem leider führt diese Unschärfe aber, was wohl wenig überrascht, zu unerhofften Extremalwerten, die von schnörkellos-brachialer Siglen-Ruppigkeit bis zur blumig-bemühten Briefform-Adaption reichen -- zumindest, was E-Mails betrifft. Die Netiquette kommt bisher nicht nach, vielleicht muss aber auch einfach an ihre Stelle was anderes hin:
"Es gibt keine korrekte Praxis des E-Mailens. Der natürliche Modus des Mediums ist die Spontaneität, Eilfertigkeit; der richtige Zeitpunkt, auf eine Mail zu antworten, ist postwendend. Aber dann hat man kein Leben mehr. Also verweigert man sich der Spontaneität und schiebt die Antwort auf: Stunden, Tage, Wochen. Mittlerweile ist die Eingangs-Mail schal und abgestanden, jede Antwort kann nur bemüht klingen. Die Kränkung ist unabwendbar, also kompensiert man sie mit einer unnötig elaborierten Mitteilung. Man stellt höfliche Fragen und betet, sie mögen unbeantwortet bleiben. Man betet vergeblich.

Klar, man könnte immer schön schroff und ausschließlich in Minuskeln antworten. Man könnte die Antwort auch ganz schuldig bleiben, es sei denn, es geht um was Konkretes. Doch die abendländische Kultur hat der schriftlichen Korrespondenz schon immer ihre nobelsten Gesten der Höflichkeit vorbehalten, und die Erinnerung an früher ist nicht totzukriegen. Per E-Mail kann man mit so vielen Leuten in Kontakt treten - und jeden von ihnen gegen sich aufbringen. Denn aufgebracht sind sie, die ehemaligen Freunde, schließlich gab es nie ein effizienteres Vehikel zur Übermittlung von Unbesonnenheiten und Erregungen als eine E-Mail. Irgendwas hat einen gefuchst - und meistens etwas Eingebildetes, weil der Tonfall ja auch nie richtig rüberkommt in E-Mails -, und ehe man sich versieht, teilt man schon aus. Ein Klick auf SENDEN, und es ist zu spät. Zu spät, weil zu früh."
[Wiedereintragung vom 22.05.11]

1 Kommentar:

  1. Das ist sehr interessant, die Gedanken über ein 'Medium', das noch keine Konturen hat und keine Stilvorgaben. Es gab vielleicht mal eine Briefkultur, eine Mailkultur ist nicht in Sicht. Ähnliches gilt für das Social Web. Ein Gradmesser ist aus meiner Sicht, dass ich mich worüber am meisten ärgere? - über Mails. Wenn sie nicht beantwortet werden, wenn sie unverschämt wirken, die Anrede fehlt oder andere Mindestanforderungen an Höflichkeit. Denn mit der Verantwortung in diesen elektronischen Medien ist es so eine Sache. Anders als im persönlichen Gespräch (face to face oder auch am Telefon) scheint man sich kaum für das, was das Geschriebene beim Anderen bewirkt, verantwortlich zu fühlen. Auch wenn man gar nicht schreibt. Ich bin nun wirklich gegen alle das-Internet-zerstört-die-Sitten-Thesen, aber die Kombination aus Schnelligkeit (im Unterschied zum Brief) und körperlicher Abwesenheit des Gegenübers scheint die Veranwortungskoordinaten zu verschieben. Ich selbst habe diesbezüglich noch viel zu lernen.

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