Donnerstag, 20. Oktober 2011

Wer von Luhmann Chauvinismus erwartet hätte, der muss nicht enttäuscht werden.


(Ein unerwarteter Sekretär -- Foto: Jörg Kantel, CC BY-NC-ND 2.0)
Als kognitiv werden Erwartungen erlebt und behandelt, die im Falle der Enttäuschung an die Wirklichkeit angepaßt werden. Für normative Erwartungen gilt das Gegenteil: daß man sie nicht fallenläßt, wenn jemand ihnen zuwiderhandelt. Erwartet man zum Beispiel eine neue Sekretärin, so enthält die Situation sowohl kognitive als auch normative Erwartungskomponenten. Daß sie jung, hübsch, blond sei, kann man allenfalls kognitiv erwarten; man muß sich in diesen Hinsichten Enttäuschungen anpassen, kann also nicht etwa auf blonden Haaren bestehen, Umfärben verlangen usw. Daß sie bestimmte Leistungen erbringe, wird dagegen normativ erwartet. Wird man in diesem Punkte enttäuscht, hat man nicht das Gefühl, falsch erwartet zu haben. Die Erwartung wird festgehalten und die Diskrepanz dem Handelnden zugerechnet. Kognitive Erwartungen sind mithin durch eine nicht notwendig bewußte Lernbereitschaft ausgezeichnet, normative Erwartungen dagegen durch die Entschlossenheit, aus Enttäuschungen nicht zu lernen. [...] Obwohl kontrafaktisch ausgerichtet, ist der Sinn des Sollens nicht weniger faktisch als der Sinn des Seins. Faktisch ist alles Erwarten, seine Erfüllung ebenso wie seine Nichterfüllung. Das Faktische umfaßt das Normative. Die übliche Entgegensetzung von Faktischem und Normativem sollte deshalb aufgegeben werden. Sie ist eine begriffliche Fehlkonstruktion, so als ob man Menschen und Frauen einander entgegensetzen wollte - ein Begriffsmanöver, das in diesem Falle zum Nachteil der Frauen, in jenem zum Nachteil des Sollens ausschlägt. 
(Luhmann, Rechtssoziologie)

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