Kapitel 2: Entantwortung
Das Entantworten ist eine sehr häufig im sozialen Nahfeld praktizierte Selbstversicherungsstrategie. Ob beim gemeinsames "Weggehen", der Planung eines gemeinsamen Mittagessens oder auch bei der Auswahl eines Geburtstagsgeschenks für gemeinsame Freunde oder Verwandte kommt das Entantworten häufig und erfolgreich zum Einsatz, weil es eine hochgradig selbstentlastende und zugleich selbstermächtigende Selbstversicherungsstrategie darstellt.
1.Zeile: Noch ist der E. "mitgefangen" 2.Zeile: E. hat sich epochal (Husserl) "entantwortet" |
Er steht im Club am Rand und merkt müde an, dass die Musik langweilig und die Stimmung mindestens miserabel ist; er lässt beim Gehen durch ungewohnte Großstädte seine Mitläufer die Wege wählen und weiß immer danach (und manchmal schon währenddessen), dass es die falschen Wege waren; er lebt und profitiert von ihm zur Verfügung gestellten Strukturen und Ressourcen und weiß nach Feierabend trotzdem über sie herzuziehen, ohne sie eigentlich ändern zu wollen.
Zynische Kommentatoren interpretierten teilweise sogar demokratische Wahlen ganz allgemein als große "Entantwortungsrituale", die es den Bürgern ermöglichen sollen, ihre Verantwortung für die Gesellschaft und alles, was sonst mit ihr geschieht, im Akt der Wahl symbolisch an ihre Volksvertreter abzutreten um dann teilnahmslos und trotzdem besonders kritik- und protestfreudig weiter dabei zu sein.
Aber auch Theorietreibende kommen gelegentlich in den Genuss der Selbstentantwortung, wenn sie beispielsweise damit beginnen, Praktiker in ihrer Praxis zu kritisieren, ohne dabei selbst relevante Handlungsalternativen zur Verfügung stellen zu wollen oder vorzuschlagen:
Zynische Kommentatoren interpretierten teilweise sogar demokratische Wahlen ganz allgemein als große "Entantwortungsrituale", die es den Bürgern ermöglichen sollen, ihre Verantwortung für die Gesellschaft und alles, was sonst mit ihr geschieht, im Akt der Wahl symbolisch an ihre Volksvertreter abzutreten um dann teilnahmslos und trotzdem besonders kritik- und protestfreudig weiter dabei zu sein.
Aber auch Theorietreibende kommen gelegentlich in den Genuss der Selbstentantwortung, wenn sie beispielsweise damit beginnen, Praktiker in ihrer Praxis zu kritisieren, ohne dabei selbst relevante Handlungsalternativen zur Verfügung stellen zu wollen oder vorzuschlagen:
"Eine Kritik von seiten der Wissenschaft am Handeln anderer ist immer dann leichtfertig, wenn die Wissenschaft nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die Probleme des Handelnden selbst zu übernehmen und sie besser zu lösen.“
(Luhmann, Praxis der Theorie)[Re-Entry vom 27.01.12]
Ja, man ist leicht daran "Mach's doch besser!" zu rufen, wenn die eigene Praxis von außen kritisiert wird. Auch das ist eine Form der Entantwortung. Sie besteht in der Rückentantwortung der Entantwortung, also in der Kritik der ursprünglichen Kritik.
AntwortenLöschenNoch einmal: Ja, man ist leicht daran die Kritik zu kritisieren. Und nur allzu selten liegt man ganz daneben, wenn man das tut. Dennoch ist die Kritik der zweiten Ebene nicht immer angebracht. Das hat sowohl einen formal-praktischen, als auch einen praktisch-formalen Grund.
Erteilen wir jeder Kritik in gleicher Weise das Wort, nehmen wir sie alle gleich ernst, so müssen wir das bis in die Unendlichkeit tun. Die achtundsechzigste Ebene der Kritik ist so zu hören, wie die erste und jede, die auf sie folgt; mehr noch: Auch bloß folgen könnte. Eine Entscheidung zu fällen, das heißt, Verantwortung zu übernehmen, wird so unmöglich. (Hier entsteht also aus einer formalen Ursache eine praktische Wirkung; daher formal-praktisch.)
Wichtiger noch scheint mir aber dieser Grund für die Ablehnung der Kritik der zweiten Ebene: Dass es Personen und Personengruppen gibt, die sich schon vor ihrer Handlung zur Verantwortung für diese bekannt haben, indem sie die Entantwortung anderer absichtlich auf sich kanalisieren. Sie werben sogar für diese Entantwortung. Mit der freiwilligen Aufsichnahme der Verantwortung geht allerdings auch immer der Verzicht auf die Möglichkeit der eigenen Entantwortung einher. Verantwortung und Entantwortung entpuppen sich als widersprüchlich zueinander. (Es zeigt sich also eine formale Wirkung, die aus der Praxis der Handelnden erwächst; daher praktisch-formal.)
Wie wäre es zunächst mit einer einfachen Zulässigkeitsklausel für Kritik: Wer Kritik äußert muss relevante Handlungsalternativen anbieten, für die er im Annahmefall selbst Verantwortung übernehmen würde.
LöschenDie zweite Form der Entantwortung nannte Heidegger in SuZ die "einspringende Fürsorge" und bemerkte über sie:
"Die Fürsorge hat hinsichtlich ihrer positiven Modi zwei extreme Möglichkeiten. Sie kann dem Anderen die »Sorge« gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn einspringen. Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen. Dieser wird dabei aus seiner Stelle geworfen, er tritt zurück, um nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen, bzw. sich ganz davon zu entlasten. In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben. Diese einspringende, die »Sorge« abnehmende Fürsorge bestimmt das Miteinandersein in weitem Umfang, und sie betrifft zumeist das Besorgen des Zuhandenen." (Heidegger, SuZ)
Eine Zulässigkeitsklausel dieser Form wäre nichts, das ich mir wünschen würde. Ich möchte Kritik üben dürfen, ohne eine Alternative parat zu haben. Ich will sagen dürfen: "Ihr habt den Karren in den Dreck gefahren, zieht ihn wieder heraus!", und zwar ohne auch sagen zu müssen, wie man den Karren nicht in den Dreck gefahren hätte, oder wie man ihn wieder herauszieht. Ich möchte Aussagen "falsch" nennen dürfen, ohne selbst die Wahrheit zu kennen. Und natürlich: Ich möchte dieser Form der Kritik nicht selbst ausgesetzt sein. Sie ist, wenn man so will, nicht ganz fair. Unzulässig ist sie aber nicht.
LöschenMan kann sich ja auch vorstellen, dass jemand sich für eine bestimmte Entwicklung der Situation verantwortet ("Ich besorge für heute abend ein Geschenk für uns."). In diesem Fall scheint Kritik im Hinblick auf auf die verantwortete Entwicklung bei Nichterfüllung angemessen.
LöschenOb auch offenbar nicht ganz faire Kritik zulässig (und heißt das hier bloß möglich oder angemessen?) sein sollte...hm. Wieso?
Diese Form der Kritik ist nicht "offenbar nicht ganz fair", sondern lediglich "wenn man so will, nicht ganz fair." Diese scheinbare Unfairness, die mit echter Unfairness nur den Namen gemein hat, zeichnet sich dadurch aus, dass sich einer der Beteiligten Kritik anhören muss, ohne die Kritik selbst kritisieren zu können. Diesen Schlamassel hat er sich selbst eingebrockt, nämlich dadurch, dass er, indem er freiwillig Verantwortung auf sich nahm, dem anderen ermöglichte, sich an ihm zu entantworten. Deutlich: Er hat gesagt, er könne es besser. Und eben das kann man jetzt von ihm fordern. Wenn seine Antwort auf Kritik die Gegenkritik "Mach's doch besser!" ist, widerspricht er damit seiner eigenen Behauptung, er könne es selbst am besten. Und genau dieser Widerspruch begründet die Zulässigkeit dieser Form der Kritik.
LöschenEs gibt eine Variation der Entantwortung, die man nicht mit der Entwantwortung im beschriebenen Sinne verwechseln sollte: gelassen den anderen nicht mit meinem Willen und meiner Entscheidung zu überrumpeln. Sieht man, dass der andere in einer Situation der gemeinsamen Entscheidung unfähig ist, die eigenen trivialen Neigungen auf das Gemeinsame hin aufzubrechen ("ich will nicht in diese Kneipe gehen", "wenn wir ihm das schenken mache ich nicht mit"), so ist es oftmals ratsam still nachzugeben. Was sich so für manchen Beobachter als schlaffe Entantwortung zu präsentieren scheint, ist dann in Wahrheit die Verantwortung zum Gemeinsamen durch verantwortliches Entantworten.
AntwortenLöschenDa gehe ich mit - und würde auch denken, dass man, indem man dann die resultierende Entscheidung als gemeinsame mitträgt (und nicht in trotziger Reserve weiter still gegen sie opponiert), sich in verantwortliche Mitträgerschaft der entstandenen Situation (zurück)begibt; sodass man im möglichen Streitfall ("Was habt ihr denn da für ein komisches Geschenk ausgewählt!") nicht auf die ursprüngliche Divergenz der Vorstellungen zurückverweist ("SIE hat das ausgesucht!").
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