Donnerstag, 3. Mai 2012

Beschleunigung -- "entweder" und "oder", oder aber "auch".

("Die Maschine läuft auf Hochturing"; Lizenz: CC BY-SA 3.0)
So oder so muss man sich entscheiden. Mit irgendwas anfangen, damit irgendwas anderes ausgeschlossen wird. Schneller als erwartet akkumuliert sich Geschichte, macht das System träge, erzeugt Ruckel-Effekte, verhindert im Einzelfall Akzeleration, lässt das System hinter andere (aber welche?) zurückfallen und sich demotiviert in Trägheit einrichten. Die erste Initiative lässt nächste Schritte folgen, auf die Erwartungen Anderer folgen, die sich wechselseitig zu einem limitierend-limitierten Spielraum von Systemmöglichkeit verdichten: Sind ihm Witze erlaubt? Darf es in seinen Kontexten beleidigt sein? Lässt man ihm Unhöflichkeit durchgehen? 
Es ist die Bewältigung dieser Kontingenz, die das System in die Richtung von Individualität spezifiziert. Wenn das System sich konform einstellt, gewinnt es Individualität, weil es nicht abweicht. Wenn es abweicht, gewinnt es Individualität, weil es sich nicht konform verhält. Beide Haltungen können sich bewähren und durch positiven feedback verstärkt werden. Wie typisch für Bifurkationen, kann das zur Akkumulation einer Geschichte führen, die sich entweder auf der Bahn der Konformität oder auf der Bahn der Abweichung akkumuliert und mit der Last ihrer Bewährungen radikale Änderungen erschwert. Die Option für die eine oder andere Seite kann nach Sachgebieten des Erwartens differenziert werden, etwa nach dem Muster: beruflich erfolgreich, aber drogenabhängig; in der Schule ein völliger Versager, aber im Leben bewährt; ein glänzender Verführer und Liebhaber, aber hin und wieder im Gefängnis; oder zwar ehrlich, aber doof. 
(Luhmann, Die Autopoiesis des Bewusstseins)
Die Lore läuft -- während das System sich ins Netz dessen verstrickt, was es schon getan hat, das andere so oder ähnlich auch wieder von ihm erwarten. Ein "sich selbst limitierender Kontext" (Soziale Systeme), der ohne kompletten Milieu-Wechsel durch Umzüge oder Urlaube nur unter großem Kraftaufwand aus den routinisierten Erwartungs-Erwartungen ausbrechen kann.
Nicht zufällig haben schon frühe Soziologen beobachten können, daß der unvertraute Fremde mehr Freiheit genießt und unbefangener agieren kann. Wer länger am Platze ist, schon bekannt ist, vertraut hat und Vertrauen genießt, ist eben dadurch mit seiner Selbstdarstellung in ein durch ihn miterzeugtes Gewebe von Normen verstrickt, aus dem er sich nicht zurückziehen kann, ohne Teile seines Selbst zurückzulassen -- es sei denn, daß er ganz von der Szene verschwindet und nur die Illusion hinterläßt, daß er anderswo derselbe bleibt. 
(Luhmann, Vertrauen)
Die Frage ist dann, wie und ob oder überhaupt nicht sich das System zum unerwarteten System verdichten, beschleunigen oder flexibilisieren lässt, ohne sich dabei einfach aufzulösen. Nicht nur Chaos muss man noch in sich haben:
Man muß genügend Organismus bewahren, damit er sich bei jeder Morgendämmerung neugestalten kann; und man braucht kleine Vorräte an Signifikanz und Interpretation, man muß auf sie aufpassen, auch um sie ihrem eigenen System entgegenzusetzen, wenn die Umstände es verlangen, wenn Dinge, Personen, oder sogar Situationen euch dazu zwingen; man braucht kleine Rationen von Subjektivität, man muß so viel davon aufheben, daß man auf die herrschende Realität antworten kann.
(Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus)
Das System kann Erwartungen zu unterwandern versuchen, sich auf einmal anders verhalten, den Überraschenden, Spontanen geben, muss dann aber aufpassen, nicht wieder einfach als "Erwartungen unterwandernd" erwartet zu werden:
Und da Provokation sich nicht wiederholen läßt, muß man immer neue Provokationen ersinnen, bis ein Zustand der Gewöhnung eintritt mit der Folge, daß die Gesellschaft sich durch Provokationen nicht mehr provozieren läßt.

8 Kommentare:

  1. Woody Allen says: Probably, life is a failure. Maybe it’s even meant that way. At least for humans, except for Marshal McLuhan. There is so much unbalance in things. But what for? Plus we’ve got to pay tax. And you got parents. Or you are parents. Or both, which is worse. Nothing really is for free.
    I stopped reading books, especially Schopenhauer. I love philosophy, but it makes me sad. I’d rather go fishing. The alphabet, and what literary people have done to it, is absolutely disappointing. Even Pushkin is a mess. It’s so good to have Frank Sinatra and the Marx Brothers, at least on tape.
    Know what? I think we would do better as birds. They just fly. Why don’t we? Gravitation can’t be it.

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    1. Die schöneren Alternativen erfinden. Für eine Schule der konkretisierenden Poesie.

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  2. Woody Allen says: Words are important. Ask poets! They even write them.
    The problem is that people often use language improperly. They upsize semantics, even on Sundays. Can't they have a break? Even God doesn't work on Sundays, why are other people so ignorant?
    Know what my suspicion is? Communication is sports. But where is the gym?

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    1. Worte kann man nicht falsch gebrauchen, höchstens unerwartet. Man darf dann mit weniger Verstehen rechnen, das schadet aber nicht; auch nicht Sonntags.

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  3. Woody Allen says: People want to be wise. They’re right. It helps them. It helps us. It’s even social justice. I wonder why this is not in Rawls. You get the idea just by thinking. Thinking is brain abuse for a good purpose, basically. The Harvard people should get emails on that.
    Know what? Wisdom is an issue. Even doctors can’t do without it. It should be a public concern. We need politics on these premises. But who is the public if people are online?

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    1. Aber wo war denn die Öffentlichkeit, als jeder noch Zeitung gelesen hat? On oder nonline, das macht hier gar keinen Unterschied. Alle starren immer auf die Fläche und lesen und sehen, was wichtig oder unwichtig ist.
      Aber die Weisheit ist das Problem. Von der versteht heute kaum mehr einer was, Rawls überhaupt nicht. Und das ist wirklich nicht leicht zu ändern. Angeln kann weise sein, ein Buch zu schreiben kann weise sein. Aber wie hilft man anderen damit? Wie pflanzt sich das fort? Nicht nur online, aber auch.

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  4. Woody Allen says: What people think is in the newspapers. The problem is that people don't read. They would rather relax, they even twitter. They go on holidays, just because they don't get cheap tickets for concerts.
    Know what? People don't know much about ontology. But they should. It works. It helps them to be creative, even to procreate. But who am I to interfere with contingence?

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  5. Des Lesens ist genug, der Bücher zu viel. Heute werden Fragmente gelesen, Präferenz der eleganten und unsperrigen Form, Annäherung an die natürliche Aufmerksamkeitsspanne der Hominiden. Seit die Ontologien auch im Alltag flüssiger werden, sind sie und Kontingenz aus dem selben Stoff: Fluxus - Flachs der Welt.

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