Dienstag, 16. April 2013

Dezentrationgesuche - Über die Möglichkeit einer Beobachtung vorerster Ordnung

„In der Philosophie ist also alles, was nicht Dunst ist, Grammatik [und andersrum].“
(Wittgenstein)
"Einladung zur Unterschreitung"
Gewöhnlich durch den Alltag taumelnd fallen einem kaum auf die fahleren Gefilde halbbewussten Tumults, die sich zwischen die durchsemantisierten Objektbereiche schummeln. Selbst grundlegend dekonzentriert behält meist das Wachheitsmodul die Oberhand, suggeriert trotz blendenden Sonneneinfalls, schief leuchtender Schatten am Turm, röstlichem Gekiefer, schief übereinandergelagerter Seh-Eindrücke wegen zu geringer Objektdistanz, die Kontinuität des Ich-Jetzt-Hier, dem nichts unter der Sonne mal zum Beispiel zumindestens merkwürdig wird. Die Grundkonzentration, der immer mitlaufende "Rest von Subjektivität" (Deleuze/Guattari), hält die Eindrücke auf durchgezogener Sympathielinie, in deren Fluchtpunkt das latente "Ich denke" - meist nicht überdeutlich, aber immerhin doch - vor sich hin glimmt. Normalitätsunterstellung und mittelmäßige Sinnerwartung stabilisieren den alltäglichen Weltraum auf ein Niveau einigermaßen interessanter Gewöhnlichkeit.

Wer aus diesem Spektakel der Normalität ausbrechen will, kann das auf mindestens zweierlei Weisen tun: Durch Austritt aus oder durch Eingang in die Szene.

Das Zurücktreten, der Austritt aus der Szene wird dabei oft mit der vertikalen Bewegungsrichtung assoziiert: Aufsteigen, sich über-/entheben, nach ganz oben gehen, über den Dingen stehen, sich selbst beobachten etc. Wer so vor sich selbst zu sich selbst etwa "Ich" zu sagen beginnt, macht in diese Richtung schon die ersten Schritte: Virtualisierung deiner Seinsinsel, Erweckung des inneren, nicht-rasenden Reporters. Die Berichterstattung hat's inzwischen auch gelernt, sagt nicht mehr: "Auf dem Parteitag demonstrierte die SPD Geschlossenheit" sondern: "Auf dem Partei der SPD sollte Geschlossenheit demonstriert werden." Natürlich ist das noch nicht besonders spektakulär, soll aber anzeigen, dass hier einer die Kunst des perspektivischen Aufstiegs schon zu beherrschen gelernt hat. Darstellung von Aufmerksamkeit und Konzentration bleibt in dieser Richtung trotz Distanznahme möglich, der Beobachter nächsthöherer Ordnung beobachtet immer eine Spur schärfer, einen Tick besser. "Ick bün all dor."

Anders sieht das beim Eingang in die Szene aus. Das Eingehen wird weniger häufig als Möglichkeit der Auflösung alltäglicher Verstrickung aufgefasst, weil es nicht, wie das Höherbeobachten, in die Richtung der Bewusstseinssteigerung zu weisen scheint. Eher im Gegenteil, Eingang in den Dunst heißt: nebulöser Flirt im Diffusionsmilieu, dezentrierende Brechung des Bewusstseinsstrahls am Prisma latenter Unschärfen, da lässt sich nichts mehr einfach so klar und deutlich heraussagen; und das Delirium winkt und schäumt als fröhliche Gefahr am Rande des Weltmunds. Das Hineingehen ist eine Art der Desubjektivierung, die eher an archaischere Formen weisen Schweigens erinnert. Hier wird etwa ein verbergendes Lächeln als wesentlicher Grundbezug zum Weltgeschehen auf einmal wieder plausibel, der ansässige Bauer schüttelt einmal müde mit dem Kopf und wir bleiben auf einmal für immer in der Provinz. Der Blick impliziert sich hier auf einen zerstreuten Pfad, hinter dem die Möglichkeit einer Beobachtung vorerster Ordnung sichtbar wird, die Möglichkeit eines letzten, vorersten Blicks. 
"Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt."
(Kleist)

2 Kommentare:

  1. http://www.youtube.com/watch?v=oqyqm7-qOfs

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  2. Wenn Sprache mehr Ozean wäre als "Haus", mehr Wasser und tiefe See denn Boden und Bau - also Logos Thalassa: Wie schwömmen und tauchten wir dann der Grammatik davon, ab in Gründe ganz am Grund! Und: Müssten wir, schwimmend so getragen und tauchend so umwogt, nicht mit Flows, Strömungen, Brandungen, Gischt zu sprechen, zu schweigen lernen - eher als mit Tinten zu schreiben?
    Dahin bringt Sehen und Hören vor-erster Ordnung. Die Kuinzigen vermögen es. Sie, allein sie, haben das Augenohr, das Ohrenauge. Sie fotografieren aus dem Gedächtnis. Sie klatschen mit einer Hand. Sie floaten in Dionys‘ Tonne nachtwärts, tagwärts. Sie peilen mit linken Zehen. Ohne Paradox wird ihnen schlecht.
    "In der Philosophie ist alles, was nicht kuinzig ist, andersrum (also Dunst oder Grammatik)." (Heidgenstone) Daher: "Wenn uns ein Engel einmal aus seiner Philosophie erzählte, ich glaube es müßten wohl manche Sätze so klingen als wie 2 mal 2 ist 13." (Lichtenberg)
    Wer muss, kann: Raus aus der Fremde der Normalität; vom Ptolemäer zum Hypotopenforscher sich weit ausbürgernd, rin in die Metropolis der Wachesten. Rönne solche Wacht in die Szene, über Zorn und über Zeit, dann mindestens als zweierlei Waise: als älternloses Neuestes des Zeitigen; als hinterbliebener Riemann-Raum des S ist noch nicht p.
    Wer ein Bäuerchen macht, dem bleiben wir nicht in der Provinz. Go underground - until you pop up in NY!

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