Montag, 24. März 2014

Über den "gegenwärtigen Stand der Geisteswissenschaften" – Eine kritische Notiz

Der Philosoph glaubt, der Werth seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau: die Nachwelt findet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird: also darin, daß jener Bau zerstört werden kann und doch noch als Material Werth hat.
Nietzsche
„Postmoderne Philosophie“, „Kulturphilosophie“, „französische Philosophie“ – auch heute begegnen einem – zumindest, sofern man sich gelegentlich in entsprechenden Kreisen bewegt – noch hin und wieder Begriffe, bei denen die gewählte Betonung leise zum Ausdruck bringt, dass es sich bei dem so Bezeichneten um etwas Kurioses, Belustigendes, zumindest aber wissenschaftlich um etwas nicht wirklich Ernstzunehmendes handelt. Und ich glaube, es gibt hinreichend gute Gründe anzunehmen, dass sich ganz Ähnliches auch für andere theoretische Lager mit umgekehrten Vorzeichen beobachten lässt: Dass es Kreise gibt, in denen Analoges über die sogenannte „analytische“ Philosophie, die "Heideggerianer", "Lacanianer", "Butler_innen", "Luhmannianer", undwasdergleichenmehrsei kolportiert wird. Diese Beobachtung – und von deren Verallgemeinerbarkeit gehe ich hier einfach ungedeckt aus –, lässt vermuten, dass es schwer ist, so etwas wie einen einheitlichen Stand geisteswissenschaftlicher Forschung zu bestimmen: Wo sollte man suchen? Wen sollte man fragen? Analytische Philosophen? Phänomenologen? Poststrukturalisten? Hegelianer? Laclau? Wie sollte sich eigentlich bestimmen lassen, wo die Geisteswissenschaften heute stehen?

"Karte der Geisteswissenschaften"
Es gibt eben keinen „gegenwärtigen Stand“ geisteswissenschaftlicher Forschung. Wer von so etwas ausgeht, wer Sätze sagt oder schreibt wie „Heute wird kaum bestritten, dass…“, „Heute besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass…“, oder auch – raffinierter – „Niemand wird heute noch bestreiten, dass…“, der schreibt oder spricht an der geisteswissenschaftlichen Wirklichkeit vorbei. Ein schönes Negativbeispiel hierfür liefert etwa David Papineau, der in einem Vortrag über den von ihm vertretenen Naturalismus nebenbei anmerkt: „The mind must itself be physical. And that is now the dominant view – at least in my circles.“ [bei ihm natürlich besonders amüsant die explizite Verschränkung von “dominant view” und “in my circles”]. Ein zweites, nicht weniger amüsantes Beispiel liefert Markus Gabriel, der in seinem philosophischen Kassenschlager „Warum es die Welt nicht gibt“ in einem beeindruckend großspurigen Vorwort zu Protokoll gibt: "Der Neue Realismus beschreibt eine philosophische Haltung, die das Zeitalter nach der sogenannten »Postmoderne« kennzeichnen soll (das ich, streng autobiographisch gesprochen, im Sommer 2011 – genau genommen am 23. 6. 2011, gegen 13 : 30 Uhr – bei einem Mittagessen in Neapel zusammen mit dem italienischen Philosophen Maurizio Ferraris eingeläutet habe)." Die Verwendung solcher rhetorischer Figuren, die Einigkeit oder die Notwendigkeit historischer Sukzession suggerieren, wo eine unüberblickbare Vielstimmigkeit nicht zu synthetisierender Denkbewegungen sich jeweils lokal um Selbstverständigung bemüht, erscheint – heute! so! – nicht mehr plausibel.

Natürlich gibt es oft und in vielen Debatten dominante Interpretationen, diskursive Bezugspunkte, einzelne Autoren und Diskussionen, die weithin bekannt sind und die für so etwas wie Grundkonsonanz, zumindest für geteilte Bezugsmöglichkeiten zwischen weiten Teilen der Theorieprofessionellen sorgen („Kant“ zum Beispiel wäre hier so ein Bezugspunkt, den man in fast allen Kontexten erfolgreich platzieren kann). Aber so etwas wie einen allgemeinen gegenwärtigen Stand geisteswissenschaftlicher Selbstverständigung, den gibt es eben nicht. Es scheint vielmehr, und davon kann man sich etwa überzeugen, wenn man geisteswissenschaftliche Konferenzen mit sich stark voneinander unterscheidenden Schwerpunkten und theoretischen Bezügen besucht, eine ganze Reihe solcher „Stände“ zu geben, die in sich selbst offenbar – zumindest, sofern man ihren Selbstbeschreibungen Glauben schenkt – so etwas wie Erkenntnisgewinne verbuchen, die gemeinsam produktiv an spezifischen und weniger spezifischen Problemen forschen. Aber es gibt keine Orte, an denen diese verschiedenen Entwicklungen hinreichend, heute überhaupt noch gebündelt werden könnten - keine geteilte, wissenschaftliche Öffentlichkeit. 

Es könnte eine fruchtbare Aufgabe sein, angesichts der Möglichkeit eines solchen Eingeständnisses die möglichen Funktionen der Geisteswissenschaften neu zu überdenken. Einen Begriff dieser Funktionen zu entwickeln, der die Vorstellung einer positiven "Theorie von Diesemoderjenem" aufgibt, der nicht vom Ganzen, vom Bau her denkt, sondern vom brauchbaren Material.

2 Kommentare:

  1. Man kann, meine ich, die historischen Wissenschaften von dem Befund ausnehmen, vermutlich weil es dort so etwas wie Quellenforschung, Belege und Begründungsstandards gibt und weil die historischen Wissenschaften sich ihrer Lücken und Unsicherheiten immer bewusst sind. Das Elend beginnt dort, wo Geisteswissenschaftler nicht viel mehr machen als Formulierungen zu erzeugen und dann Anhänger einwerben. Der Ansatz Nietzsches, die Gedankengebäude immer wieder zusammenstürzen zu lassen, um in den Ruinen die noch brauchbaren Steine aufzulesen, erscheint wie gemacht für die Selbstaufklärung der philosophischen Fakultät. Denn wenn es auch kaum kanonische Ergebnisse gibt, so gibt es dennoch einen gewissen Fortschritt in den Geisteswissenschaften. Im Selbstverständnis des Menschen jhat sich ja in den letzten 500 Jahren doch eingies getan. Man kann allerdings fragen, wo denn die Geisteswissenschaften authentisch dazu beigetragen haben bzw. ob nicht die objektiven Wissenschaften es sind, die den Geisteswissenschaften zeigen, was in diesem oder jenem Punkt der verbindliche Stand ist?

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  2. Nachklapp: Man könnte die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft auch daran messen (!), wie viel Betrugsfälle aufgedeckt wurden und von welcher Qualität sie sind. Echte Betrugsfälle scheint es nur in den objektiven Wissenschaften zu geben ( http://bit.ly/1gwz2dE ), in den Geisteswissenschaften ist das Schlimmste Verbrechen nicht mehr als simples Plagiieren. Daraus könnte man folgern, dass alle Geisteswissenschaften eine Art Betrug darstellen, sofern sie behapten, etwas Tatsächliches herausgefunden zu haben, oder eben dass die Geisteswissenschaften immer nur Bauteile für die ewig strudelnden Abenteuer des Geistes liefern. Das wäre eine durchaus relevante Einsicht, weil ja einige Fächer nicht nur so so tun, als wüssten sie etwas Haltbares, sondern mit ihren Bausteinen auch noch Einfluss nehmen auf Politik und Gesetzgebung ("Genderforschung", "Gesellschaftsforschung", "Erziehungswissenschaften" u.ä. Fächer) ... Es wäre natürlich eine schöne Herausforderung, z.B.im Fach Philosophie einmal willentlich einen Betrug an der Weisheit zu begehen. Dazu bräuchte es vermutlich eine verschworene Gruppe von 2 oder 3 Schreibern und circa 20 Jahre harter Arbeit.

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