Was ist Bildung? Dass Bildung nicht einfach in der Anhäufung
von Wissensbeständen besteht ist so selbstverständlich, dass man sich wünschen
müsste, dass man es nicht mehr eigens wiederholen bräuchte. Aber auch ein über die
bloße Anhäufung von Beständen hinausgehender Begriff der Bildung, einer etwa, der
so etwas wie Raffinement im Hinblick auf bestimmte Gegenstandsbereiche umfasst,
greift zu kurz. Bildung, das ist eigentlich das Erlernen der Fähigkeit, sich
Dinge anzueignen, die man gerne tut. Das klingt zunächst einmal nach nicht
besonders viel; und das ist es genau besehen wahrscheinlich auch nicht. Bildung
hat zunächst einmal weder etwas mit irgendeinem spezifischen Wissen noch mit
Moral und nur indirekt etwas mit Autonomie zu tun.
Man erkennt eine Gebildete daran, dass sie selbst zu den
Dingen gefunden hat, die sie gerne tut. Und daran, dass sie sich das, wozu sie
gefunden hat, selbst sucht, wenn es nicht von alleine zu ihr kommt. Gebildet zu sein bedeutet, in die Lage
versetzt zu sein, die Dinge zu finden, mit denen man gerne etwas anfängt, mit denen
man etwas anfangen kann. Der Gebildete ist deshalb einer, der sich selten
langweilt, weil er selbst die Dinge kennt, die er gerne tut. Er sucht sie
selbst auf, weiß, wo sie zu finden sind und ist deshalb nicht im gleichen Maße wie
andere darauf angewiesen, dass irgendetwas aus der Welt auf ihn zukommt, um ihn
zu beschäftigen. Und es ist dabei gerade dieses selbst aktiv auf die Dinge Zugehen,
die man gerne tut, was den Gebildeten vom Ungebildeten unterscheidet. Der
Ungebildete mag dasselbe gerne tun wie der Gebildete: solange er bloß hinnimmt
und genießt, was die Gelegenheit ihm jeweils bietet, ohne es selbst und aktiv zu
suchen, es sich selbst als Eigenes anzueignen, haben wir es nicht mit einem Fall von Bildung
zu tun.
Aber auf welche Dinge geht man in dieser Weise zu, welche
Dinge sollte man sich so aneignen? Gibt es irgendwelche Kriterien, die uns objektiv
entscheiden lassen, womit gerne zu beschäftigen sich lohnt?
Der in seiner Vermoderung begriffene, bildungsbürgerliche
Begriff der „Kultur“ bringt hier etwas mit sich, das man die „Idee der allgemeinen
Begeisterungsbefehle“ nennen könnte. Er geht – wie viele andere Menschen auch –
davon aus, dass die jeweils eigenen Begeisterungen (und noch mehr die eigenen
Ablehnungen) allgemein und von allen geteilt werden müssten. Dieser Umstand,
der Umstand, dass Menschen dazu neigen, ihre privaten Empfindungen zu
universalisieren, ihre eigene Horizonte mit der Welt zu verwechseln, wird in
der Ästhetik oft als empirisches Argument für die These gebraucht, dass
Kunstwerken legitimerweise objektive ästhetische Werte zugeschrieben werden können. [„Wenn wir
Urteile über Kunstwerke fällen, erheben wir doch in diesen Urteilen Anspruch
auf objektive Geltung!“] Und es ist von hier aus kein weiter Weg bis zu der
These, dass es so etwas wie Kriterien für etwas gäbe, das man dann „Allgemeinbildung“
nennt, Kanons etwa, an denen sich ablesen ließe, welche Dinge ganz allgemein
als Gegenstände der Begeisterung infrage kommen sollten (Beethoven!, Goethe!, Picasso!,
undsoweiter).
Es geht aber in der Bildung nie um etwas Allgemeines, es
geht allerdings auch nicht im Gegensatz um etwas bloß Privates, es geht in der
Bildung immer um etwas Gemeinsames. Um Dinge, mit denen man selbst wie andere auch
etwas anfangen kann – und nicht jeder kann eben mit denselben Dingen etwas
anfangen.
Das Problem der „Allgemeinbildung“ ist also, dass es sie
nicht gibt. Bildung lässt sich nicht auf einem universalen Maßstab abtragen,
auf dem man sich dann irgendwo in einem Mehr oder Weniger selbst verorten
könnte. Bildung ist immer persönlich, sofern sie nie für Alle dasselbe bedeuten
kann. Bildung erfolgt immer jeweilig und entlang eigener, aber mit anderen
geteilter, teilbarer Resonanzlinien, die den Einzelnen faszinativ an sich
entlangführen, ihn zum Weitergehen, zur Mehr-Beschäftigung motivieren. Mathematik
oder Biologie und Physik kann jeder – sofern er oder sie eine gewisse
Grundausstattung mitbringt – sich anlernen. Es kümmert die mathematischen Tatsachen
so wenig wie die physikalischen Tatsachen, wer sie sich aneignet: Sie bleiben einfach
die objektiven Bestände, die sie sind. Darin liegt gerade einer ihrer
besonderen Reize. Man muss sich mit ihnen nicht anfreunden, damit sie gelten. (Was
natürlich nicht ausschließt, dass man sich mit ihnen anfreunden kann.) Bei
Bildungsgütern ist das aber gerade umgekehrt.
Bildungsgüter zeichnen sich dadurch aus, dass man sie sich
nie allgemein, sondern immer nur persönlich aneignet, dass man sich mit ihnen
befreunden muss, damit sie gelten. Wer einfach nichts mit Hip Hop oder David
Lynch anfangen kann, der wird sich kaum oder nur schwer mit diesen Dingen
anfreunden können. Mit Bildungsgütern tritt man immer in eine Art Befreundungsverhältnis,
das nicht universalisierbar, wohl aber teilbar ist und das auch keinen Anspruch
auf universale Geltung macht. Gleichzeitig ist man mit dieser Befreundung
allerdings niemals (oder nur sehr selten) allein: Indem man sich mit einer
bestimmten Sache befreundet (einer Band, einem bestimmten Maler, Designer,
einer bestimmten Serie), begibt man sich zugleich in jeweils immer potentiell
divergierende Befreundungskreise, den Kreis derjenigen, die sich ebenfalls für ebenjene
bestimmten Gesten, bestimmten Schnitte, bestimmten Arten und Weisen, die Welt
zu beschreiben, eine bestimmte Form von Ironie oder bestimmte Formen der
Komposition von Farben oder Geräuschen begeistern.
Und weil Bildung in dieser Weise niemals objektiv und allgemeingültig
sein kann, scheinen viele sie heute an den Schulen und Universitäten nicht zu vermissen.
Bildung wird zu etwas Privatem, das jede und jeder in seiner Freizeit tun kann
(und auch und vor allem nur hier tun sollte), wenn er oder sie denn will. Das Problem
ist nur: Auf den Weg der Bildung geraten die wenigsten von alleine. Wer in
seiner Freizeit einfach nur vor sich selbst hintrudelt, während im Beruf ein vorgezeichneter
Schritt hinter den nächsten gesetzt wird, dem fällt oft einfach nicht ein, was sonst noch alles möglich wäre. Dass ganz Anderes auch noch möglich wäre. Das
Verhältnis der bloßen Akzeptanz zur Tatsache des eigenen Lebens dominiert heute
wie immer. Das bedeutet, dass die meisten Menschen das Leben in ihrer eigenen
Existenz gar nicht explizit affirmieren, nie dahin gekommen sind, ihr Leben
aktiv zu affirmieren, sondern es lediglich als eine nicht ohne weiteres zu verhindernde Tatsache akzeptieren und dabei zugleich versuchen, irgendwie möglichst gut aus der
Sache wieder herauszukommen. Bildung ist demgegenüber aktive Affirmation der
eigenen Welt als einer Menge von Dingen, die man gerne tut. Und so beinhaltet
Bildung indirekt auch immer das Versprechen, dass das überhaupt möglich ist: die eigene
Welt auch (nie nur natürlich) als eine Menge von Dingen zu gestalten, die man gerne tut. Und man
braucht, um in so ein Verhältnis zum eigenen Leben zu geraten, in den meisten
Fällen so etwas wie „Lehrer“, die einen durch ihre eigene Existenz erst mit
dieser Möglichkeit konfrontieren, selbst einige Dinge zu finden, die man
jeweils gerne tut. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Und sollte es irgendwie möglich sein, diese Nichtselbstverständlichkeit durch Institutionalisierungen
zumindest wahrscheinlicher zu machen, sollten sich die Gebildeten unter deren Verächtern unbedingt noch etwas mehr als bisher um die Möglichkeit der Bildung bemühen.
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