Dienstag, 6. Januar 2015

Über die gegenwärtige Krise der Bildung. Und: Wieso Bildung eigentlich die Fähigkeit bezeichnet, sich Dinge anzueignen, die man gerne tut.

Was ist Bildung? Dass Bildung nicht einfach in der Anhäufung von Wissensbeständen besteht ist so selbstverständlich, dass man sich wünschen müsste, dass man es nicht mehr eigens wiederholen bräuchte. Aber auch ein über die bloße Anhäufung von Beständen hinausgehender Begriff der Bildung, einer etwa, der so etwas wie Raffinement im Hinblick auf bestimmte Gegenstandsbereiche umfasst, greift zu kurz. Bildung, das ist eigentlich das Erlernen der Fähigkeit, sich Dinge anzueignen, die man gerne tut. Das klingt zunächst einmal nach nicht besonders viel; und das ist es genau besehen wahrscheinlich auch nicht. Bildung hat zunächst einmal weder etwas mit irgendeinem spezifischen Wissen noch mit Moral und nur indirekt etwas mit Autonomie zu tun.

Man erkennt eine Gebildete daran, dass sie selbst zu den Dingen gefunden hat, die sie gerne tut. Und daran, dass sie sich das, wozu sie gefunden hat, selbst sucht, wenn es nicht von alleine zu ihr kommt. Gebildet zu sein bedeutet, in die Lage versetzt zu sein, die Dinge zu finden, mit denen man gerne etwas anfängt, mit denen man etwas anfangen kann. Der Gebildete ist deshalb einer, der sich selten langweilt, weil er selbst die Dinge kennt, die er gerne tut. Er sucht sie selbst auf, weiß, wo sie zu finden sind und ist deshalb nicht im gleichen Maße wie andere darauf angewiesen, dass irgendetwas aus der Welt auf ihn zukommt, um ihn zu beschäftigen. Und es ist dabei gerade dieses selbst aktiv auf die Dinge Zugehen, die man gerne tut, was den Gebildeten vom Ungebildeten unterscheidet. Der Ungebildete mag dasselbe gerne tun wie der Gebildete: solange er bloß hinnimmt und genießt, was die Gelegenheit ihm jeweils bietet, ohne es selbst und aktiv zu suchen, es sich selbst als Eigenes anzueignen, haben wir es nicht mit einem Fall von Bildung zu tun.

Aber auf welche Dinge geht man in dieser Weise zu, welche Dinge sollte man sich so aneignen? Gibt es irgendwelche Kriterien, die uns objektiv entscheiden lassen, womit gerne zu beschäftigen sich lohnt?

Der in seiner Vermoderung begriffene, bildungsbürgerliche Begriff der „Kultur“ bringt hier etwas mit sich, das man die „Idee der allgemeinen Begeisterungsbefehle“ nennen könnte. Er geht – wie viele andere Menschen auch – davon aus, dass die jeweils eigenen Begeisterungen (und noch mehr die eigenen Ablehnungen) allgemein und von allen geteilt werden müssten. Dieser Umstand, der Umstand, dass Menschen dazu neigen, ihre privaten Empfindungen zu universalisieren, ihre eigene Horizonte mit der Welt zu verwechseln, wird in der Ästhetik oft als empirisches Argument für die These gebraucht, dass Kunstwerken legitimerweise objektive ästhetische Werte zugeschrieben werden können. [„Wenn wir Urteile über Kunstwerke fällen, erheben wir doch in diesen Urteilen Anspruch auf objektive Geltung!“] Und es ist von hier aus kein weiter Weg bis zu der These, dass es so etwas wie Kriterien für etwas gäbe, das man dann „Allgemeinbildung“ nennt, Kanons etwa, an denen sich ablesen ließe, welche Dinge ganz allgemein als Gegenstände der Begeisterung infrage kommen sollten (Beethoven!, Goethe!, Picasso!, undsoweiter).


Es geht aber in der Bildung nie um etwas Allgemeines, es geht allerdings auch nicht im Gegensatz um etwas bloß Privates, es geht in der Bildung immer um etwas Gemeinsames. Um Dinge, mit denen man selbst wie andere auch etwas anfangen kann – und nicht jeder kann eben mit denselben Dingen etwas anfangen.

Das Problem der „Allgemeinbildung“ ist also, dass es sie nicht gibt. Bildung lässt sich nicht auf einem universalen Maßstab abtragen, auf dem man sich dann irgendwo in einem Mehr oder Weniger selbst verorten könnte. Bildung ist immer persönlich, sofern sie nie für Alle dasselbe bedeuten kann. Bildung erfolgt immer jeweilig und entlang eigener, aber mit anderen geteilter, teilbarer Resonanzlinien, die den Einzelnen faszinativ an sich entlangführen, ihn zum Weitergehen, zur Mehr-Beschäftigung motivieren. Mathematik oder Biologie und Physik kann jeder – sofern er oder sie eine gewisse Grundausstattung mitbringt – sich anlernen. Es kümmert die mathematischen Tatsachen so wenig wie die physikalischen Tatsachen, wer sie sich aneignet: Sie bleiben einfach die objektiven Bestände, die sie sind. Darin liegt gerade einer ihrer besonderen Reize. Man muss sich mit ihnen nicht anfreunden, damit sie gelten. (Was natürlich nicht ausschließt, dass man sich mit ihnen anfreunden kann.) Bei Bildungsgütern ist das aber gerade umgekehrt.

Bildungsgüter zeichnen sich dadurch aus, dass man sie sich nie allgemein, sondern immer nur persönlich aneignet, dass man sich mit ihnen befreunden muss, damit sie gelten. Wer einfach nichts mit Hip Hop oder David Lynch anfangen kann, der wird sich kaum oder nur schwer mit diesen Dingen anfreunden können. Mit Bildungsgütern tritt man immer in eine Art Befreundungsverhältnis, das nicht universalisierbar, wohl aber teilbar ist und das auch keinen Anspruch auf universale Geltung macht. Gleichzeitig ist man mit dieser Befreundung allerdings niemals (oder nur sehr selten) allein: Indem man sich mit einer bestimmten Sache befreundet (einer Band, einem bestimmten Maler, Designer, einer bestimmten Serie), begibt man sich zugleich in jeweils immer potentiell divergierende Befreundungskreise, den Kreis derjenigen, die sich ebenfalls für ebenjene bestimmten Gesten, bestimmten Schnitte, bestimmten Arten und Weisen, die Welt zu beschreiben, eine bestimmte Form von Ironie oder bestimmte Formen der Komposition von Farben oder Geräuschen begeistern.

Und weil Bildung in dieser Weise niemals objektiv und allgemeingültig sein kann, scheinen viele sie heute an den Schulen und Universitäten nicht zu vermissen. Bildung wird zu etwas Privatem, das jede und jeder in seiner Freizeit tun kann (und auch und vor allem nur hier tun sollte), wenn er oder sie denn will. Das Problem ist nur: Auf den Weg der Bildung geraten die wenigsten von alleine. Wer in seiner Freizeit einfach nur vor sich selbst hintrudelt, während im Beruf ein vorgezeichneter Schritt hinter den nächsten gesetzt wird, dem fällt oft einfach nicht ein, was sonst noch alles möglich wäre. Dass ganz Anderes auch noch möglich wäre. Das Verhältnis der bloßen Akzeptanz zur Tatsache des eigenen Lebens dominiert heute wie immer. Das bedeutet, dass die meisten Menschen das Leben in ihrer eigenen Existenz gar nicht explizit affirmieren, nie dahin gekommen sind, ihr Leben aktiv zu affirmieren, sondern es lediglich als eine nicht ohne weiteres zu verhindernde Tatsache akzeptieren und dabei zugleich versuchen, irgendwie möglichst gut aus der Sache wieder herauszukommen. Bildung ist demgegenüber aktive Affirmation der eigenen Welt als einer Menge von Dingen, die man gerne tut. Und so beinhaltet Bildung indirekt auch immer das Versprechen, dass das überhaupt möglich ist: die eigene Welt auch (nie nur natürlich) als eine Menge von Dingen zu gestalten, die man gerne tut. Und man braucht, um in so ein Verhältnis zum eigenen Leben zu geraten, in den meisten Fällen so etwas wie „Lehrer“, die einen durch ihre eigene Existenz erst mit dieser Möglichkeit konfrontieren, selbst einige Dinge zu finden, die man jeweils gerne tut. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Und sollte es irgendwie möglich sein, diese Nichtselbstverständlichkeit durch Institutionalisierungen zumindest wahrscheinlicher zu machen, sollten sich die Gebildeten unter deren Verächtern unbedingt noch etwas mehr als bisher um die Möglichkeit der Bildung bemühen.

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