Donnerstag, 15. März 2012

Zwischen Reform und Revolution - Unsortierte Elemente einer Fragmentarisierung der Betriebe

(Seismographische Intelligenz)
Aus der geistigen Welt einen lebendigen Organismus bilden, der auf den leisesten Druck reagiert.
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit

Wer grobe Kategorisierungen nicht scheut, der findet im Nachdenken über die Entwicklung von Kunst und Wissenschaft häufig zwei grundverschiedene, einander teils ergänzende, teils aber auch ausschließende Prozesse beschrieben:  
Dem Weitermachen am und mit dem bereits Geleisteten steht die Innovation, der unerwartete Regelbruch, der Einfall des Neuen in die innerste Strukturierung des jeweiligen Praxiszusammenhangs gegenüber. Thomas Kuhn unterschied exemplarisch zwischen Phasen der "Normalwissenschaft", die vor allem durch "Puzzle-Solving", d.h. die Lösung derjenigen Probleme bestimmt sind, die sich gewissermaßen "natürlich" aus den bisherigen Annahmen und Ergebnissen schon ergeben, und den Phasen "wissenschaftlicher Revolutionen", in denen Grundsätzliches auf dem Spiel und zur Diskussion steht. Mit Blick auf die Kunst unterschied Kant analog "Nachäffung" als tumbe Imitation des Genialischen von der ursprünglich regelsetzenden Kraft des Genies...
Gaston Bachelard unterschied ähnlich zwischen "Philosophie" und "Wissenschaft": Während er der traditionellen Philosophen-Philosophie unterstellte, immer wieder neu und grundsätzlich (also genialisch) ansetzen zu wollen, arbeiten die Wissenschaftler ihm zufolge immer am schon Geleisteten weiter, setzen dieses voraus, bauen aufeinander auf und nicht (wie in den "Geisteswissenschaften" eher üblich) sich gegenseitig ab.
So stehen wir vor dem gleichen Paradox: Der Rationalismus [der Naturwissenschaften] ist eine Philosophie, die fortsetzt; er ist niemals wirklich eine Philosophie, die anfängt.
(Bachelard, Der angewandt Rationalismus)
Dem Immer-wieder-neu-Anfangen steht hier also ebenfalls das am Bestehenden anschließende Weitermachen gegenüber.
Man kann diesen beiden Perspektiven spezifische Gewichtungen zuordnen: Das Neuanfangen wird meist verknüpft mit einer Höhergewichtung des Einzelnen (der Person, dem Einzelereignis) gegenüber dem Gesamtzusammenhang; die besondere Rolle des Genies ist hier das markanteste Beispiel, die Vorstellung der politischen Revolution als eine alles auf einmal erfassende Umwälzung aller Verhältnisse funktioniert hier ganz strukturanalog, ähnlich auch die Vorstellung des "radikalen Schnitts" auf der existenziellen Ebene (vgl. hierzu Robert Musil, Die Amsel). Das große Einzelne setzt mit schöpferlich-revolutionärer Geste die neuen Regeln, das neue "Paradigma" und ermöglicht so eine Reihe neuer Imitationen und Kontinuierungen (die allerdings schon wieder außerhalb des Genialischen angesiedelt sind). Das Weitermachen fällt dagegen häufig mit einer Mehrgewichtung der Struktur gegenüber den sie weitertragenden Einzelnen zusammen. Bewahrung und Fortentwicklung des schon Geleisteten stehen hier im Vordergrund, mit einer Tendenz zur Hoffnung auf eine schrittweise, reformistische Optimierung der (wissenschaftlichen, künstlerischen, existenziellen oder politischen) Verhältnisse. Je nach Temperament kann man dabei "modernistisch" Innovation oder "reformistisch" Weitermachen bevorzugen. Carnap etwa bevorzugte das Weitermachen:
der Einzelne unternimmt nicht mehr, ein ganzes Gebäude der Philosophie in kühner Tat zu errichten. [...] jeder trägt nur herbei, was er vor der Gesamtheit der Mitarbeitenden verantworten und rechtfertigen kann. So wird sorgsam Stein zu Stein gefügt und ein sicherer Bau errichtet, an dem jede folgende Generation weiterschaffen kann.
(Carnap, Der logische Aufbau der Welt)
Für beide Positionen ist dabei bezeichnend, dass sie eine holistische Vorstellung der jeweiligen Praxiszusammenhänge voraussetzen: die Einheit der Disziplin, des Funktionssystems, undsoweiter. Man kann das im Bezug auf Kunst und Wissenschaft mit einem Hinweis auf Ausdifferenzierung kritisieren und auf die Ausbildung von Subkulturen, spezialisierten Forschungsbereichen etc. verweisen, die solche Einheitsvorstellungen zumindest problematisch machen; im Hinblick auf politische und existenzielle Fragen analog mit einem Hinweis auf die Umstellung von großen gemeinsamen Langzeit-Projekten auf issue-spezifische Instantan-Kooperationen, die sich nach den gemeinsamen Engagements wieder zerstreuen (Flashmobs, episodische Kooperationen, entsprechende Beziehungs- und Freundschaftsmodelle) und ihre episodischen Identitäten aus den jeweils einzelnen, kurzfristig verbindenden Anliegen beziehen. Hier bietet sich vielleicht eine entdramatisierende Zwischenposition an:
Um es provokanter zu formulieren: ich möchte behaupten, dass Design einer der Begriffe ist, die das Wort "Revolution" ersetzt haben! Wenn man sagt, dass alles designt und redesignt werden muss (einschließlich der Natur), dann ist etwas impliziert wie: weder wird es revolutioniert noch modernisiert werden.
Auf der Ebene der Betriebe entspräche dem möglicherweise (im Anschluss an Luhmann und Baecker) eine Umorientierung weg vom Konzept "Institution" (die traditional auf Fortbestand des status quo setzt) hin zum Konzept "Organisation" (die funktional nach optimalsten Lösungen für die durch sie bearbeiteten Probleme sucht). Diese Entwicklung entspricht einer Permanentisierung und Universalisierung des "Prinzips Revolution" (als Aufforderung, alles Bestehende funktional noch einmal auf seine Optimierbarkeit hin zu untersuchen).
Ähnlich aber anders haben Deleuze und Guattari von einer Wissenschaft der "Nomaden" gesprochen, die bekanntlich "allen [allzu] beständigen Anbau des Bodens verabscheuen" (Kant, KdrV):
Es gibt eine Wissenschaft, beziehungsweise einen Umgang mit der Wissenschaft, der nur schwer einzuordnen und dessen Geschichte nicht leicht zu verfolgen ist. [...] Dieses Modell ist ein Modell des Werdens und der Heterogenität, das dem Feststehenden, Ewigen, Immergleichen und Dauerhaften gegenübergestellt wird. Es ist ein "Paradox", aus dem Werden als solches ein Modell zu machen und es nicht mehr nur als sekundäres Merkmal einer Kopie anzusehen. [...] Schließlich ist das Modell problematisch und nicht mehr theorematisch: [...] Man geht weder durch spezifische Differenzen von einer Gattung zu ihren Arten über, noch durch Deduktion von einem beständigen Wesen zu Eigenschaften, sondern von einem Problem zu den Zufällen, die es bedingen und lösen.
(Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus)

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