Samstag, 5. Januar 2013

Das Defaszinations-Apriori der Theorie (und seine Negation)

[Re-Entry 07-20-12]
"Apo-Sitional" [@SG]
"Du verstehst es nicht. (Es ist Jazz.) Ich habe die Flows. (Und du nur ein Gefäß). Fang davon etwas auf und flieg auf und davon.
(In deinem mentalen Heißluftballon)"
(Retrogott/Hazenberg)
Nicht zugeben zu dürfen, was die eigene Motivation eigentlich ist. So tun müssen, als hätte sich alles auch von alleine genau so ergeben, wenn nur irgendeiner es einmal nüchtern und lange genug - analytisch! - in den Blick genommen hätte: Unter einem allgemeinen Neutralitätsgebot steht für gewöhnlich die Theorie. Wer doch offen gesteht, dass er in und durch seine Überlegungen emotiven Impulsen folgt, ihn möglicherweise hier etwas antreibt, was nicht seinerseits einfach abstrakt und nüchtern zu begründen wäre, macht sich dem gegenüber verdächtig. Neutral sei sie, die Theorie, ganz wie ihr großer, naturwissenschaftlicher Bruder. 
Die "theoretische Einstellung" meint die praktische Desinteressiertheit der Disposition gegenüber dem Thema der betätigten "Theoria". Die Neutralität im Sinne der Unbeteiligtheit des Theoretikers als eines Zuschauers ist für Husserl wesenhaft dem Eingestellt-Sein auf Wissen. So deutet diese knappe Erläuterung des Begriffs der "theoretischen Einstellung" auf ein grundlegendes Merkmal der wissenschaftlichen Untersuchung als Textgattung, d.i. auf die Verschwiegenheit der sie bewegenden Motivation.
(Jean Clam)
Wenn Theorie sich selbst präsentiert, so tut sie das also meist als von ihren Gegenständen defasziniert. Ihr Paradigma der Defaszination ist -- ihr Name hat es schon verraten -- der göttliche Blick, Sauron (der allerdings fast schon zu spezifisch aufmerksam), der "Blick von nirgendwo" (Thomas Nagel), Zeus, "als eine Art Pensionär im Absoluten" (Sloterdijk), der Welt souverän bei ihren Autoimmun-Verstrickungen zusehend, während die vielen kleinen selbstverwickelten und -faszinierten Ideologen sich gegenseitig "die Zähne ins eigene Fleisch" (Schopenhauer) schlagen. Der Theoretiker dagegen arbeitet, von den konkreten Bedrängnissen unberührt, thronend, schwebend [und was einem noch an Jovialitätsfiguren so einfällt] an ihn im Idealfall überdauernden Resultaten, die mit ihm nicht mehr zu tun haben als ihren "context of discovery" (Reichenbach).
Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das Vollgefühl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird.
(Max Weber)
Das Dauernde der Philosophie sind aber nicht ihre Antworten, ihr Dauerndes sind [das wird hier einfach behauptet; mit einem Kopf, Textkopf, versehen] die verschiedenen Weisen des faszinierten Fragens und Sagens. Wer von den Philosophen Positionen lernen will ("Herr H., Sie sind doch Philosoph, sagen Sie uns, wie sollen wir uns moralisch korrekt verhalten?"), hat nicht verstanden, dass die einzelnen Positionierungen nur vorübergehende Anhalte eines gerichteten Sagens und Fragens waren. 
Es gibt vielleicht so etwas wie die heisenbergsche Unschärferelation des Philosophierens, die darin besteht, dass man, wenn man den Ort einer philosophischen Positionierung in Erfahrung bringt, nichts mehr über den spezifischen Impuls aussagen kann, der diese Positionierung eigentlich trägt, ihr als Impuls- und Bewegungsmasse im Nacken sitzt. Die Philosophie verkauft aber keine mentalen Immobilien sondern bietet Richtungen und Geschwindigkeiten, vielleicht sogar Vehikel des Sagens und Fragens an, Methoden, denen sie -- jeweils verschieden -- selbst folgt; und dabei dieses Bewegtsein fasziniert präsentiert.
Die Faszination spielt hier insofern eine gewichtige Rolle, weil sie den Bewegungssinn, die Richtung der Bewegtheit vorgibt, auf der sich ein Denken jeweils bewegt. Hier hat man es überhaupt nicht mit "Ideologien" zu tun, weil Ideologien Selbsteinmauerungen in positionale Gefäße bedeuten. Das faszinierte Denken besitzt dagegen (nur) eine Gerichtetheit, Es tut Es nicht für "cash und fame" (D-Flame), sondern weil Es ihm So am interessantesten erscheint -- und ist dabei a-positional, transitorisch:   
Es käme darauf an, dem "Standpunktdenken", das vergeblich nach dem richtigen (proletarischen, konservativen, liberalen) Standort fragt, abzusagen, und Rationalität in der Struktur der Theorie anzusiedeln: Im Verhältnis des Aussagesubjekts zu seinen semantischen und narrativen Verfahren. [...]
Das Engagement als solches sollte [...] keineswegs unterdrückt, sondern als angebracht erkannt und anerkannt werden: solange es nicht in Ideologisierung umschlägt und die theoretische Reflexion lähmt.
(Peter V. Zima, Was ist Theorie?)
Das wäre eine Theorie, die ihre eigenen Fasziniertheit offen bekennt und bekennend auch verkörpert, eine "Art Wissenschaft, die von Fans betrieben wird" und die das "eigene Fasziniertsein nicht ideologisch ausblendet, sondern heuristisch fruchtbar macht".

(Diedrich Diederichsen, zitiert nach Eckhard Schumacher, Existenzielles Besserwissen, in: Dilettantismus als Beruf). 

21 Kommentare:

  1. Belter Wanjamin20. Juli 2012 um 22:04

    Haha. Sauron. <3

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  2. "Mentale Immobilien". Echt Spitze.

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  3. Nur die Theorie, auch die Wissenschaft ist Fan-omenologie.

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    1. Würde ich mitgehen, sogar andersrum unterschreiben: Faszination ist für die Wissenschaft (als Naturwissenschaft) nicht einmal gleichermaßen problematisch wie für die per se banalitäten-verkomplizierungs- und geschwurbel-verdächtige Theorie. Die faszinierte Teilchenforscherin kann ihre Fasziniertheit problemlos offen demonstrieren, weil die auf die Validität ihrer Ergebnisse wenig Einfluss haben wird.

      Eine vom Liberalismus faszinierte Liberalisten allerdings mag problematisch erscheinen, sofern sie denn ihre Überlegungen zugleich so präsentiert, als ob das eine auf das andere keinen Einfluss habe, als seien ihre Überlegungen dennoch neutral.

      Genau das Gegenteil (die offene Kommunikation der eigenen Faszination) könnte aber - so die Vermutung - solche Formen der notwendig schizoiden Selbstpräsentation entkrampfen und ihnen so sogar größere Überzeugungskraft verleihen -- sofern eben die Kontingenz des eigenen Engagements nicht invisibilisiert werden muss, sondern offen demonstriert werden kann:

      Und trotzdem sagt Sie Es genau So.

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  4. Das wäre eine Theorie, die ihre eigenen Fasziniertheit offen bekennt und bekennend auch verkörpert, eine "Art Wissenschaft, die von Fans betrieben wird" und die das "eigene Fasziniertsein nicht ideologisch ausblendet, sondern heuristisch fruchtbar macht".

    Was mich anschließend fasziniert ist die Frage: was wird ausgeblendet, was wird unterdrückt, vermieden und beseite geschoben, wenn man zustimmen möchte? Ja mehr, wenn man einem Imperativ folgen wollte, der lautet: Thematisiere (oder gar: bekenne) deine Faszination!

    Müsste man dann nicht konsequenterweise weiter gehen und überlegen, dass die Vermeidung ideologischer Einmauerung nur dann gelingen kann, wenn man ihr nicht mehr mit Vermeidungsvorbehalten begegnet? Wenn also auch egal ist, wovon eine Theorie fasziniert sein will.

    Vermutlich lösen sich diese Probleme auf, sobald sie nicht mehr auf Erwartungen treffen, die so etwas noch problematisieren wollen. Wenn also Erwartungen entstehen, die nicht mehr auf Zumutungsabsichten eingerichtet sind. Denn in dem Fall würde der Versuch, ideologisch zu informieren oder ideologisch zu blockieren ein Verhalten wie das des Dackels ohne Herrchen zeitigen.

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    1. Es muss nichts ausgeschlossen werden. Wie könnte etwas ausgeschlossen werden? Soll es sich dabei um mehr handeln als die implizite oder explizite Äußerung, dass sich etwas nicht gehöre ("Du darfst nicht durch 0 teilen!" "Du darfst nicht die Menge aller Mengen bilden, die sich nicht selbst enthalten!" "Man darf nicht mit den Fingern essen!")? Vielleicht würde es einiges geben, an das nicht angeschlossen wird - aber selbst das wäre keine Negation, kein Verbot. Obwohl natürlich das jeweils einzelne vieles ausschließt, weil es sonst nicht einmal etwas wäre - aber was wäre das? [Aufgabe: "Äußere etwas, das nichts ausschließt!"]

      Vermutlich lösen sich diese Probleme auf, sobald sie nicht mehr auf Erwartungen treffen, die so etwas noch problematisieren wollen.

      An die Stelle von Kritik tritt die Unterscheidung Anschließen/Nicht-Anschließen. Und selbst Kritik realisiert sich nur als Anschluss, an den angeschlossen wurde. Wer nur im Modus der Kritik an im Modus der Kritik Geäußertes anschließt, richtet sich ein in einer Faszination der Negation ("Ich möchte noch einmal betonen, dass er wirklich etwas schreibt, was sich eigentlich nicht geziemt." "Ja, dem möchte ich zustimmen."). Aber auch das ist nicht ausgeschlossen.

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    2. Der Autor unterschätzt offenbar die epistemische Gewalt. Die epistemische Gewalt wird sich irgendwann dafür rächen.

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    3. Ganz im Gegenteil -- der und die und das ist genau der Punkt.

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    4. Theatralische Spielweise jenseits der Beispielswiese, beispielsweise:

      [Die Danebengestandenen bsp. „Du darfst nicht durch 0 teilen.“]
      [Die Danebenbestehenden bsp. „Man soll nicht mit den Fingern essen.“]
      [Der Autor zum Beispiel <-- "S-Code kann nicht übernommen werden."]

      Fas Zination tritt auf, leise raschelnd als Hintergrund, sie stellt das Bühnenbild

      Die epistemische Gewalt: „Ich, die epistemische Gewalt, unwirsch.“


      Die Danebengestandenen: „Geh du mal spieln, ich erledige das hier.“

      Ein bisschen bitter („ich will, weil ich kann, was ich muss“), ein bisschen erlösend („hatte ja keine andere Wahl“), ein bisschen hierarchisch? (wo wäre da oben und unten?), ein bisschen wohlwollend mütterlich („wennst wieder kommst gibt’s an kuchen“), ein bisschen ordnungsfanatisch („ich erledige das hier“), ein bisschen überheblich („die spieln ja bloß“), ein bisschen traurig, mitmachenwollen.

      Die Danebenbestehenden lachen die epistemische Gewalt aus.

      Sauron: „Faaaaaas!“

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  5. Das ist gut, dass man das jetzt auch nochmal bestätigt hat. Dann steht es ja wieder fest an seinem Punkt. Glück gehabt.

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    1. Allerdings. Aber: Wessen Punkt könnte das sein? Und vor allem: Worin liegt (und besteht) dann die epistemische Gewalt [die müssten wir doch jetzt genauer bestimmen]?

      [Um nach dem absoluten Raum, in dem sich sein Punkt befinden müsste, um fest zu stehen, nicht zu fragen]

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    2. Das subalterne Gespenst21. Juli 2012 um 18:38

      Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht.

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    3. Ist es wieder: in meinen schlimmsten Träumen sucht es mich heim.

      Keine Sorge, das subalterne Gespenst ist selbst in seinen supralternsten Verkleidungen noch integriert. (Mithilfe einer vertick-trick-und-trackten Neuinterpretation von Hegel: "Kneer und Hecht")

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    4. Was unausgestanden zu bedenken bleibt22. Juli 2012 um 09:59

      Messiasse sind schwer verdaulich / Das Scheinwerferblaulicht stellt / den Star in den Vordergrund / und schlägt ihm bei jedem falschen Wort auf den Mund //

      Du findest dich zurecht in deiner Geometrie / aber die Punkte / leiden unter Schizophrenie / Wack-MC, Wack-MC / oder Gott / mit wem spreche ich? Wessen Gesetze breche ich? Du flowst nicht / du verwässerst dich nur.

      (Kurt)

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    5. wer hat denn das subalterne Gespenst nur wieder eingeladen?

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  6. poltert im System:

    "Wer zuletzt lacht, ...", spricht das subalterne Gespenst, die (noch etwas beschämt dastehende) epistemische Gewalt am Bühnenrand tröstend.

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    1. die epistemische Gewalt ist tot, sie fiel im frühen Foucault.

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    2. Sie ist mein Freund21. Juli 2012 um 20:43

      Sie ist natürlich nicht tot. Sie ist immer überall und anders und das macht auch überhaupt nichts.

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  7. ... ist denn "ihr [, der Theorie] großer, naturwissenschaftlicher Bruder"?

    Fragt ganz fasziniert und absichtlich ohne Vorschläge für dessen Besetzung zu machen

    Alex

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    1. mal vermuten, ich, der Tom, dass hier einfach eine nicht näher bestimmte Imago der (Natur)Wissenschaftlichkeit gemeint ist, die bewusst eher als diffuser Fühltypus (mit Rivalitätsgefühlen besetzt) nur anvisiert wird.

      "Theorie" ist dann natürlich primär und unausgesprochen mit Geistes//Kultur//Sinn-wissenschaftlicher "theoria" (Schau des Göttlichen) identifiziert, eine fahrlässige Angewohnheit, die der Autor_In wohl von den Systemtheoretikern übernimmt.

      Ich lese das so, dass die Theorie eifersüchtig auf etwas ist, das der große Bruder (neben der bloßen Theorie [Überbetonung der theoretischen Seite der Naturwissenschaften im log. Emp.]) hat: das Experiment und die Apparate. Und sie bemüht sich so zu tun, als bräuchte sie das nicht, könnte aber dennoch genauso "objektiv" arbeiten (als ob sie das müsste).

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