Freitag, 30. November 2012

Die Erfindung der Psyche - Eine Spekulation über projektive Psychoanalyse oder: Psychoanalyse als Projektion


[tl;dr: Die Psyche ist eine Verwicklung, aber von wem?]

Symbol eines schielenden Selbst mit Welt
(Der Ohlsen; CC BY-NC-ND 2.0)
Etwas über sich selbst zu denken, das man der eigenen Empfindung nach überhaupt nicht einholen kann. Sich erzählen, dass etwas in einer bestimmten Weise, eine Konstellation, die keine spürbaren Spuren in der Gegenwart trägt, wie ein heimliches Gesetz den eigenen Wandel konstruiert und beherrscht. An einer äußeren Innerlichkeit zu hängen, deren Geheimnis man auf die Spur zu kommen versucht: Die Erfindung der Psyche.
Da erhob sich der Jüngling bestürzt und sagte: »Ich höre Zarathustra und eben dachte ich an ihn.« Zarathustra entgegnete: »Was erschrickst du deshalb? – Aber es ist mit dem Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, ins Dunkle, Tiefe – ins Böse.« »Ja, ins Böse!« rief der Jüngling. »Wie ist es möglich, daß du meine Seele entdecktest?« Zarathustra lächelte und sprach: »Manche Seele wird man nie entdecken, es sei denn, daß man sie zuerst erfindet.«
(FN, ASZ)
Wer nicht genau hinsieht, kann, wie überall sonst auch, in Menschen überall wesentlich ähnliches vermuten: Apriorische Grundbedingungen, physiologische Identitäten, transzendentale Subjektivitäten, protomythologische Komplexe (Elektra). Und wer ihnen so etwas sagt, riskiert damit immer auch, dass sie es glauben werden. Identifizierendes Denken greift überall niemals zu kurz: dafür sind seine Arme gar nicht lang genug. Was sonst Psyche heißt, erscheint aus einer anderen Perspektive als öffentliche Bestimmung des Standorts der eigenen Selbstverwicklung, die ihrerseits jeder Einzelnen erst sprechend aufgespielt werden muss ["immer die alte Leier"]. Die Subjekte lernen langsam - und wie viel wird es sie erst noch kosten - durch sich selbst in Schleifen zu prozessieren, sich selbst als Schleifen auf die Welt zu schnüren, als würde die erst durch sie zu einem kostbaren Geschenk, sich beim Beobachten des Anderen halbdurchsichtig mitspiegelnde Spiegel: 
Das Bewußtsein (>conscience<), das wir von unserem Bewußtsein selbst besitzen, sagt er [Sartre], ist verschieden von der Erkenntnis (>connaissance<), durch welche wir ein von uns verschiedenes Objekt vor uns stellen oder >vor-stellen< (und propositional beurteilen).
(Manfred Frank, Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre) 
Dieser minimalste Umweg [durch das "reflét-reflétant" (Sartre)], den auf einmal jeder Gedanke zu nehmen beginnt, fängt schon bald an als eigenes Geheimnis zu faszinieren, in das hinein man sich gerne sich selbst bespiegelnd tiefer begibt. Die Bespiegelung [wie Be-hexung] des Selbst zum Subjekt vollzieht sich also wie eine heimliche Selbstwelt-Innenausstattung [die Eltern haben dem Kind heimlich eine Wohnung gekauft, mit der sie es jetzt überraschen!], Möblierung ungeöffneter Räume zu Gemächern, Zurechtmachen innerer Grünflächen und Parkanlagen - je nach erreichtem Zeitwohlstand beliebig erweiterbares Quartier, eines jedermanns "Second Life". "Hier" kann man sich aufhalten, wenn man sich >hier< lieber gar nicht aufhalten will. Der reflektierende Schritt zurück als ein Schritt zur Seite um die Gegenwart herum sucht nach seinem blinden Punkt, dem er - als sich selbst - sich eigentlich am allernähsten zu befinden glaubt ("Was sollte mir denn auch näher liegen als Ich selbst?"). Die Erfindung der Psyche beginnt mit dem Versuch, das Medium selbst ins Bild ragen zu lassen, oder - sofern man eine andere Begrifflichkeit bevorzugt - das Medium selbst in Form zu bringen. Psychoanalyse würde in diesem Verständnis auf den unerreichbaren Grenzfall der Selbsterscheinung des Mediums im Mediums zuarbeiten - auf Autoepiphanie: Hineinragung des Selbst ins Selbst. Aber auf der anderen Seite natürlich auch die objektive Theorie der Materie als Versuch, die Form selbst zu medialisieren, als Versuch, das tumbe Material endlich zum Sprechen zu bringen.

3 Kommentare:

  1. Danke für die Anregungen! Formulierungen wie 'Hineinragung des Selbst ins Selbst' drängen mir die Frage auf, warum wir (ausdrücklich mich eingeschlossen) so oft erkenntnistheoretisch über die Psyche nachdenken. Wir sind es gewohnt, über Objekte zu sprechen und sie (hin und wieder) davor oder danach zu sehen. Das Selbst aber ist ein komisches Objekt, viel näher als alle anderen und so griffig wie nasse Seife.

    Vielleicht ist sie gar kein Objekt. Sie kann vielleicht auch nicht mit Vektoren vom erkennenden Subjekt (oder Beobachtungspunkt) aus angepeilt werden, auch nicht mit einer rekursiven Kurve, die dann auch noch mathematisch recht schwierig zu beschreiben ist.

    Nach meinem Eindruck setzt die Psyche, wenn sie denn beachtet wird, das Subjekt oder Selbst extremen Situationen aus. Als da wären: extreme Gefühle, Begierden, Triebe, Bindungen und überhaupt Geschichten. Diese Realitäten entschleunigen durch ihr Gewicht und ihre Unentziehbarkeit die Wahrnehmung, das Empfinden und das Handeln. So gesehen ist die Luhmannsche Systemtheorie noch eine Theorie des Mittelmaßes, weil der blinde Fleck der Beobachtung immer eine Grunddistanz schafft, die die Bewegung weg vom Beobachteten ermöglicht. So können 'die Dinge' am Laufen gehalten werden. Die Psyche hingegen bremst und haftet, wie die Seife des nassen Seifenstücks an der Hand.

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  2. Wie immer in solche Fällen, wenn es darum geht, nicht Objekte, sondern Verhältnisse zwischen Systemen zu betrachten, hat man es stets mit gegenseitigen Einwirkungen zu tun, hier also mit der Einwirkung von Kommunikation auf Bewusstsein und andersherum. In diesem Zusammenhang wird bei Luhmann auf Sprache und Schemata (1) als "Koppelungsmechanismen" verwiesen, deren Spezifik darin besteht, dass sie sowohl von sozialen als auch von psychischen Systemen verwendet werden. Kommunikations- und Bewusstseinssysteme operieren mit Symbolen, Objekttypisierungen, Attributionsschemata usw. In Anlehnung an Hegels Dialektik formuliert könnte man Sprache und Schemata damit als diejenigen Momente bestimmen, welche die Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen übergreifen. Wird nun aber die Existenz eines solchen übergreifenden Moments in Rechung gestellt, dann verliert die Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen Systeme an Trennschärfe. In der Sprache der nicht-systemtheoretischen Soziologie werden daher Sprache und Schemata zu Elementen dessen, was als Kultur bezeichnet wird. In der Luhmannschen Systemtheorie findet sich dagegen der Vorschlag, "den unklaren Begriff der Kultur entbehrlich werden zu lassen und die Distanz zwischen psychischen und sozialen Systemen extrem werden zu lassen" (2).

    (1) Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt 1997, S. 109f.
    (2) ebd. S. 143.

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    1. Eine echte Anlehnung an Hegels Dialektik müsste hier wohl dartun, dass und warum der Gegensatz zwischen psychischen und sozialen Systemen in "Sprache" und "Schemata" aufgehoben bzw. aufzuheben sei. Aber darum geht es dem oben geposteten Text doch offenbar nicht im Kern. Er formuliert ein eigenständiges Problem. Vielleicht ist die Frage nach der Erfindung der Psyche (bzw. das, was diese Frage im Visier hat) tatsächlich schon an und für sich so interessant, dass man sich erst mal ganz lange nicht nach Hegel und Luhmann umkucken muss.

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