Sonntag, 13. Oktober 2013

Die Verfänglichkeit der Wiederholung - Eine kurze Theorie der Einfühlung

(Bundesarchiv, B 145 Bild-P109966 / CC-BY-SA)
Das alltägliche Prozedere besteht aus einer Reihe stabiler Routinen, festgewachsener Pfade, auf denen sich die eigene Aufmerksamkeit gewöhnlich wie gewohnt bewegt: Denktrampelpfade (was viele nicht bedenken: die längste Zeit hält man sich nicht in Räumen, sondern im schweifend-driftenden Denken auf [wie war das nochmal gestern, was hab ich gesagt, morgen ist november], nur mit einem Fuß in der physischen Gegenüber-Gegenwart gewissermaßen). In Gesprächen und im Verstehen dieselbe Szene: routinierte Gedankenpfade weisen den Weg zu dem, was man selbst als das Bekannte erkennt: ah, hier so ein Argument, so sieht das aus, ist das nicht ein Regress, kann man das umkehren, ist das eine die Bedingung von dem anderen, Beweislastumkehrung, odersoweiter. Alles erlernte, auch Argumentations- und Denkroutinen. Das große Problem: Wer einmal genug Beweglichkeit erworben hat, kann in sich selbst fast jede Denkbewegung, die von außen irgendwie reinkommt, von innen scheinbar simulieren. Wer also einmal beweglich genug geworden ist, sieht überall bekannte Gedanken, weil er die im eigenen Denken scheinbar alle nachzubauen vermag: Die ewige Wiederholung droht.

Dieses Problem besteht auf zwei Ebenen: 
1. Die Denkregistratur. Die Denkregistratur umfasst die Nuanciertheit eigenen Erlebens von Denkbewegung. Sie ist eine projektiv-rezeptive Maschine, die als Einfühlung oder Projektion mentaler Modelle die Denkbewegungen Anderer der eigenen durch Simulation näherführt. Schwach ausgebildete Denkregistraturen geben dem Gegenüber im Erleben wenig eigene Denkbewegung, stattdessen wird die Form der eigenen Bewegung auch dem Denken des Anderen unterstellt (projektiv unterschoben). Rezeptivität ist also gering, stattdessen hohe Irritation bei abweichender Entwicklung erwarteter Denkverläufe, ungewohnte Gedankensprünge werden als "verrückt", alternative schnelle Verweisungsspiele (Humor, Witz) schnell als "seltsam" registriert. Ausgeprägte Denkregistraturen dagegen verleihen den Anderen in der Wahrnehmung autonome Denkmodule, Eigenlogik, Eigenbeweglichkeit. Hierhin gehört auch das heute gelegentlich als Entschuldigung kritisierte "Nachvollziehenkönnen" nicht geteilter Denkbewegung. "Ich kann, wie sie denkt, nachvollziehen.", das heißt: ich simuliere (aktiv-passiv) ein Denkmodul, das ihre Denkbewegung scheinbar abbildet.

2. Die Vefänglichkeit der Denkbewegung. Ist das eigene Denkerleben hinlänglich differenziert, scheinen fast alle - Grenzfälle (Wahnsinn, Schizophrenie, Autismen) schwieriger - Formen der Denkbewegung durch die eigene Registratur simuliert. Hier wird es allerdings verfänglich: der Eindruck der Stärke der eigenen Regsitratur kann trügen. Zwar wird dann überall autonome Denkbewegung unterstellt, leicht aber so Eigensinniges Anderswo unregistrierbar wegsimuliert (indem die erprobten Module nur noch rekombiniert und wiederholt werden). Die erstellten Modelle der Denkregistratur sind scheinbar gut genug, alles, was sich im Umkreis des Denkens als Denken zeigt, zu simulieren. Der Eindruck universalen Verstehens schleift sich ein: Für den Besitzer [verstanden als Insasse] einer Registratur möglicherweise der Anfang einer poetischen oder theoretischen Innenausschreitung (im Roman oder einer universalistischen Theorie). 
Das diffizilere Problem: Die Unregistrierbarkeit der Unzulänglichkeit der eigenen Registratur (auch bekannt als "Der blinde Fleck"). Im Denken das Modell des Denkens überhaupt wähnend registriert die Registratur überall nur noch: Nichts Neues. Wird registrierungsmüde, schaltet langsam auf Leerlauf (das auch die Erklärung für Formen von High-Level Bewusstlosigkeit, wie sie manchmal unter Spitzenregistraturen registriert werden kann), registriert das Erlebte nur noch beiläufig mit. Die Sicherheit, die auf der Ebene der Modellierung fremder Denkbewegung durch projektionsbestätigendes Feedback erzeugt wird, sorgt dafür, dass das Registrieren selbst nach und nach beiläufiger, beliebiger wird. Die Wahrscheinlichkeit, noch neues überhaupt zu registrieren, sinkt rapide, die Registratur wird absolutiert (vom potentiell korrigierenden Registrieren losgelöst), registriert so mehr und mehr nur noch sich selbst, während zugleich, und hierhin wächst auch ihre Gefahr, andere Registraturen sie weiterhin als hyperregistrativ registrieren: Ein abgeschlossenes System, das beobachtenden Systemen gerade so maximal offen erscheint. [Öffnung und Schließung; Paradoxie]        

3 Kommentare:

  1. „Das große Problem: Wer einmal genug Beweglichkeit erworben hat, kann in sich selbst fast jede Denkbewegung, die von außen irgendwie reinkommt, von innen scheinbar simulieren. Wer also einmal beweglich genug geworden ist, sieht überall bekannte Gedanken, weil er die im eigenen Denken scheinbar alle nachzubauen vermag: Die ewige Wiederholung droht.“

    Es mag sein, dass diese Gefahr theoretisch besteht. Nichts desto trotz liegt hier ein Fehlschluss vor. Hier wird von der Möglichkeit des Eintretens eines Ereignisses auf das tatsächliche Ereignis geschlossen. Bei einem unendlichen Möglichkeitsraum stellt sich allerdings die Frage, ob dieser Schluss tatsächlich zulässig ist, denn die Möglichkeit etwas zu tun, bedeutet eben nicht zwingend, dass man es faktisch tut – speziell wenn der Möglichkeitsraum unendlich ist. Die Gefahr der ewigen Wiederholung ist also sehr gering, weil der Möglichkeitsraum so unerschöpflich ist, dass es nicht möglich ist alle Möglichkeiten zu realisieren.

    Außerdem erscheint es mir doch sehr fragwürdig, die Offenheit für seine Umwelt mit der Gefahr zu diffamieren, dass man irgendwann nichts Neues mehr erfahren kann. Wer von vorn herein keine Achtsamkeit für seine Umwelt aufbringt, wird auch nichts Neues erfahren können und bewegt sich von Beginn an nur in ausgetretenen Pfaden. In diesem Fall ist die eigene Registratur von Anfang an verabsolutiert. Wer seinem Denken durch aufmerksames Beobachten seiner Umwelt Beweglichkeit verleiht, hat wenigsten noch die Möglichkeit die oben beschriebenen Gefahren zu registrieren und ihnen entgegen zu wirken. Wenn man dagegen so borniert bleibt, wie es der Text vermuten lässt, nimmt sich von vorn herein die Möglichkeit die Gefahren praktisch zu erkennen – selbst wenn man sie theoretisch so schön hergeleitet hat. Die spannende Frage wäre dann nämlich, wie man sonst den oben beschrieben Gefahren entgegen wirken will?

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    1. Es geht im Text, zumindest war es meine Absicht, das deutlich zu machen, um eine Möglichkeit, nicht um eine Notwendigkeit. Daher auch die Rede von der Verfänglichkeit, nicht von einer unausweichlichen Verfängnis. Die Gefahr, die ich anzudeuten versucht habe, besteht darin, dass gerade theoretisch ambitionierte Insassen von Denkregistraturen in eine gewissermaßen selbst gebaute Falle laufen können: Die Registratur ist ab einem bestimmten Moment komplex genug (ich erinnere hier an Kafkas "Der Bau) um keine Irritationen von "außen" mehr registrieren zu können, sondern - wenn überhaupt - nur noch selbst erzeugte Irritationen zu registrieren.

      Es ist allerdings so, dass der Begriff der Wiederholung oben eher metaphorisch gebraucht ist. Insofern ist die angedeutete Unschärfe im Text selbst angelegt. Eigentlich geht es um diese Möglichkeit der Selbstverfängnis durch zu große Eigenkomplexität (und folglich Geschmeidigkeit, Anschmiegsamkeit) der eigenen Registratur. Was hier folgen kann ist eine Form der Bewusstlosigkeit auf allerhöchstem Niveau, der nichts Neues mehr zu begegnen scheint, gerade weil sie sich als so hochoffen und aufmerksam registriert. Das mag ein Spezialproblem sein. Trotzdem sollte man es, denke ich, nicht vernachlässigen.

      Es geht also letztlich, und da teile ich die Beobachtung, um ein Votum für die Offenheit für Alterität. Daher interessiert mich doch, inwiefern und wo der Text vermuten lässt, dass er dafür eintrete, es gar nicht erst mit Umweltoffenheit zu versuchen und die eigene Registratur direkt zu verabsolutieren ("Borniertheit").

      Die Frage ist also, ob wir uns hier in der Analyse einig sind. These: Es besteht gerade für hochsensible und komplexe Registraturen die Gefahr, durch zu hohe Anschmiegsamkeit die Möglichkeit der Erfahrung von Neuem zu unterlaufen. Was möglicherweise Neu sein könnte, wird durch die Adaptionsfähigkeit der Registratur in den Spielraum des vertrauten eingeschmeidet. Wenn wir uns hier verstehen, ist das Erkennen dieser Gefahr schon ein Schritt in die Richtung von deren Verhinderung (obwohl man an dieser Stelle, glaube ich, auch sehenden Auges in die Falle gehen kann).

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  2. Der Eindruck der Borniertheit kam zustande, weil die Alternative zwischen Beweglichkeit und Unbeweglichkeit des Denkens eröffnet wird und dann auf die Gefahren der Beweglichkeit des Denkens abstellt. Die Gefahren der Unbeweglichkeit wurden nicht mal erwähnt. Was soll man da denken?

    Ich kann die Analyse leider nicht teilen. Mir stellt sich eher folgende Frage: Ist die „Möglichkeit der Selbstverfängnis durch zu große Eigenkomplexität der eigenen Registratur“ ein theoretisches Konstrukt oder bekannt aus eigener Erfahrung? Ich denke nicht, dass der im Text beschrieben Zusammenhang zwischen dem Komplexitätsgrad eines Systems und der Irritationsfähigkeit bzw. informationellen Offenheit besteht. Ich gehe stattdessen von einem Zusammenhang zwischen der Form der Reflexion bzw. Selbstbeobachtung eines Systems und seiner informationellen Offenheit aus. Selbstbewusstheit kann die informationelle Offenheit erhöhen oder behindern. Die Frage ist, ob ein System bei der Reflexion einen Wiedereintritt auf der Innenseite oder der Außenseite vollzogen hat? Der scheinbare Komplexitätsgrad ist dann nur ein Symptom. Entscheidend ist, welche Form der Organisation der Differenz von System und Umwelt sich in den Systemoperationen zeigt. In diesem Zusammenhang lassen sich in Kafka-Texten wohl nur Anschauungsbeispiele für eine misslungene Organisation der System/Umwelt-Differenz finden.

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