Dienstag, 25. Oktober 2011

Lebens-Kunst-Nischen XVIII: P.S. verrät das zweite der drei wichtigsten Geheimnisse gelingender Selbstaneignung


(Quelle: trevor.patt Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0)
Da die Kunst gelingender Selbstaneignung eine nur wenigen Menschen zugängliche Geheimlehre darstellt, und diese Wenigen meist lieber wissend schweigen als vorschnell zu viel zu verraten, müssen die Fragmente einer Kunst erfolgreicher Selbsteinrichtung sorgsam und mit bedacht aufgelesen und gehütet werden. Nach Rafael Horzon verrät Sloterdijk nun das zweite ihrer drei wichtigsten Geheimnisse (das allerdings auch durch ein alternatives Geheimnis ersetzbar ist):

Meinen längsten Irrtum -- ich habe ihn durchschaut. Ich musste vierzig Jahre alt werden, bevor mir endlich die Augen aufgingen. Von Kindheit an hatte ich unter dem Vorurteil gelebt, man müsse unter allen Umständen die Wahrheit sagen. Wahrhaftigkeit allein, so machten sie mir vor, ermöglicht gutes Leben. Wahrheit macht frei, sagten die einen, Wahrheit macht glücklich, behaupteten die anderen. Ich habe ihren Rat beherzigt. Mein Leben verlief in den Bahnen des unauffällgen Unglücks. Niemand erklärte mir, dass ein guter Mensch über den mittleren Dienst nicht hinauskommt. Ich ging den Weg der grauen Mehrheiten, die sich nichts vormachen können und alles zugeben.


Dann kam die Wende, mit der mein Leben neu begann. An einem schicksalsträchtigen Wochenende ging mir die Wahrheit über die Wahrheit auf. Nun wird mich nie mehr jemand dazu bringen, auf meine eigenen Kosten ehrlich zu sein. So viel will ich ihnen verraten: Ein guter Tag beginnt mit einer starken Lüge. Mein eigener Fall ist hierin lehrreich. Ich taumle ins Bad und sehe im Spiegel den Schatten einer bleichen Masse, die Unwohlsein verbreitet. Müsste ich jetzt scharf hinsehen, so wäre schon alles in der Krise. Mein Feind steht im Raum und will die Sphäre mit mir teilen. Schon wieder schleicht mein nächtliches Selbst hinter mir her und will die Hälfte von meinem Leben haben. Seit Jahren belästig es mich mit dem Ansinnen, mit mir über das zu reden, was es für meine Probleme hält. Aber ich verhandle nicht mehr mit Gespenstern.
(Der ästhetische Imperativ)

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