Dienstag, 23. Oktober 2012

Kritisieren heißt Filtrieren

"Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken!" - Nietzsche
Die Vorstellung einer geteilten Öffentlichkeit

"Das Interessante durchlassen" (DyeHard; CC BY-NC-SA)
Kritik macht nur da Sinn, wo Kritisierte auf sie zu reagieren genötigt sind. Ist Ausweichen nicht möglich, erscheint das Nichteingehen auf Kritik gleichbedeutend mit ihrer Anerkennung ("Da fällt Dir wohl nichts mehr zu ein."). Zwei Argumentationskontrahenten stehen (meistens sitzen sie) einander gegenüber, tauschen Argumente aus, die jeweils zum Respondieren nötigen, den ein oder anderen möglicherweise sogar durch zwanglosen Zwang vom Besseren überzeugen. Ein nicht-entkräftigtes Argument zählt hier, wo dem Kritisierten kein rhetorisches Diffusionsgeschick zur Verfügung steht, als Entwertung seiner Position: gewonnen hat der, dessen Argumente am Ende am wenigstens durch Kritisierbarkeit enttäuschten.

Die Logik solcher Situationen lebt von der Vorstellung einer geteilten öffentlichen Bühne, eines aufmerksamen Publikums, das über das Agonalitätsgeschehen wacht, Argumente gewichtet und zählt, um am Ende Gewinner und Verlierer zu bestimmen. Goethe und Schiller imaginierten sich als Künstler offenbar noch eine solche "geteilte Grundlage des Nachdenkens über Kultur" (Jens-Christian Rabe, Gegenwärtigkeit als Phantasma), einen Ort allgemeiner Öffentlichkeit: 
„Nach dem tollen Wagestück mit den Xenien müssen wir uns bloß großer und würdiger Kunstwerke befleißigen und unsere proteische Natur, zur Beschämung aller Gegner, in die Gestalten des Edlen und Guten umwandeln“
(Goethe an Schiller, 1796)
„Wenn mir die Götter günstig sind, das auszuführen; was ich im Kopf habe, so soll es ein mächtiges Ding werden, und die Bühnen von Deutschland erschüttern“
(Schiller, 1803) 
Aufmerksamkeitsökonomie

Die Unwahrscheinlichkeit solch allgemeiner Beschäm- oder Erschüttrungen ist heute offensichtlich: es gibt keinen so deutlich geteilten Raum öffentlicher Aufmerksamkeit mehr, der Sieg oder Niederlage eines Einzelnen noch für alle sicht- und markierbar machen könnte (vielleicht lässt sich mit diesem Umstand auch das erstaunliche Interesse an der öffentlichen Aufdeckung von Verfehlungen von Politikern erklären, sofern hier noch ein Sphäre notwendig geteilter Öffentlichkeit suggeriert werden kann). 
Das Überangebot an content macht vor allem die Aufmerksamkeit zu einem knappen Gut und zerstreut sie zugleich in verschiedene, sich teils überlappende, teils einander ausschließende Aufmerksamkeitskulturen (nach geteilten Grundüberzeugungen sortierte "Schulen" der Theorie etwa, musikalische Genres, politische Orientierungen, etc.). Stets muss man -- sofern man sich das Wählen und Filtrieren nicht durch prominente Adressen und Content-Aggregatoren abnehmen lässt -- auswählen, mit was man sich beschäftigen will, und weiß dabei zugleich nicht, was genau man dabei eigentlich ausgeschlossen hat, ob es nicht auch sehr viel Interessanteres gegeben hätte, von dem man nur noch nichts weiß. 
  
Funktionen von Kritik: Richtigstellung vs. Lenkung von Aufmerksamkeit

Welche funktionale Rolle sollte Kritik in einem solchen postagonalen (weil ohnehin überfüllten) Aufmerksamkeitsregime eigentlich noch erfüllen? Natürlich, Benutzer wollen sich nach für unermunternde Zeitvergeudung verschenkten Minuten gelegentlich Luft machen und nutzen dazu etwas, was sie selbst wohl als Kritik beschreiben würden. Aber das sind dann meist persönliche Annotationen, denen im Normalfall noch weniger Aufmerksamkeit zuteil wird als dem annotierten Pimärcontent, und die -- wo sie nicht auf Verständigung hoffen -- unbeantwortet für sich stehen bleiben. Auf Richtigstellung abzielende Kritik kann nur da erfolgreich operieren, wo Bereitschaft zur Verständigung und eine geteilte Gesprächsgrundlage vorausgesetzt werden können. Man sollte zudem bedenken, dass das Kritisieren von Inhalten meist einfacher ist als deren Produktion. Gestalterische Vorschläge sind leicht auf Schwachstellen hin abklopfbar, unbegründete Prämissen finden sich in jeder Argumentation (weil die sonst zum Argumentieren gar nicht mehr käme) -- das kann man jeweils effektvoll nachweisen. Aber für wen sollte man das tun, wenn die Wahrscheinlichkeit, das oft virtuelle Gegenüber mit Kritik zu erreichen (d.h. zu Reaktion und Einlenkung zu nötigen) denkbar gering ist? Und wieso sollte man denn seine Aufmerksamkeit gerade für Kritik aufwenden, wenn man sich ja ebensogut auch mit Angenehmerem beschäftigen kann?

Filtrierende Kritik

Die Funktion von Kritik scheint heute -- wo man nicht selbst versucht, Inhalte zu liefern -- vor allem darin zu bestehen, das Interessante und Anknüpfenswerte vom Uninteressanten und wenig Erfolgsversprechenden zu unterscheiden ("krinein"). Das Überangebot an Inhalt und die Knappheit von Aufmerksamkeit (und Zeit) geben der Funktion des Unterscheidens und Filtrierens eine bisher vielleicht kaum angemessen abgemessene Relevanz. Es kann heute schon ausreichen, sich ohne alle eigenständige Produktion als Kollektor und Aggregator von Interessantem zu etablieren, um eine wichtige kritische Rolle innerhalb eines Überflusses der Inhalte zu erfüllen. Das Auswählen wird dabei selbst zu einem kreativen und produktiven Vorgang, der seinerseits, wo er mit Sorgfalt betrieben wird, mit hohem Aufwand verbunden ist. Kritik als begründete (oder Begründetheit zumindest suggerierende) Negation und Polemik scheint dagegen weitestgehend ihre kritische Relevanz verloren zu haben, sie erfüllt innerhalb eines Überangebots von "Primärquellen" nicht mehr den Zweck, den sie vielleicht teils selbst noch zu verfolgen glaubt. Filtrierende Kritik zu betreiben kann ihr gegenüber heute heißen: Für Interessantes Werbung zu machen. Das Weiterempfehlen vom Lesens- und Sehenswertem erfüllt die funktionale Rolle dessen, was sonst Kritik heißt, während das gewöhnlich als "kritikwürdig" eingestufte schlicht nicht weiterempfohlen wird. Wieso sollte man es denn noch kritisieren, wenn das immer auch heißt: ihm in einem Überangebot interessanterer Alternativen über Gebühr Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen? 
Insofern stellen Twitter und ähnliche Social Media Anwendungen, wo sie sich nicht um Skandalisierbares herum verklumpen, ihren eigenen Möglichkeiten nach hochkritische Medien dar. Sie ermöglichen eine Form filtrierendert Kritik, die Interessantes verbreitet und Uninteressantes einfach unerwähnt lässt. Was dabei jeweils als interessant erscheint, entscheiden die Kritiker als Filtratoren von ihnen ihrerseits offerierten und vorfiltrierten Faszinationsangeboten. Das mag dem Kritiker vielleicht nicht schmecken; was aber nicht jeden unbedingt interessieren muss. 

[Re-Entry vom 14.04.12]

11 Kommentare:

  1. Ich halte das alles für ganz großen Schwachsinn.

    AntwortenLöschen
  2. Kritiker sind zündelnde Feuerlöscher argumentativer Tischbrände, seit es ältere Herren gibt:

    http://www.youtube.com/watch?v=wJslb1_3p4I

    AntwortenLöschen
  3. Kritiker sind zündelnde FeuerlöscherInnen argumentativer Tischbrände, seit es ältere Herren gibt:

    http://www.youtube.com/watch?v=wJslb1_3p4I

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Und die Frage wäre dann: Wen erreichen heute noch wo und welche Brände? Oder: Wie lang und grass muss man es brennen lassen, damit alle sich gestört fühlen?

      Löschen
  4. Ich halte das alles für ganz ausgenommen geistreich.

    AntwortenLöschen
  5. Es kommt darauf an, dass es nicht darauf ankommt.

    AntwortenLöschen
  6. Primärquellen, das sind die Mythen und alten Schriften, die vom menschlichen Leben handeln (und scheinbar glaubt der Autor, der Mensch werde sich im Zuge dieser medialen Überreizung in ein neues Wesen verwandeln - tut er aber nicht, denn der Mensch lebt weiterhin lokal, denn auch die Welt global zu nennen passiert immer lokal, im Kopf, und seine Erbanlagen machen im wesentlichen Teil seinen Wert als Menschen aus.) und sich im Kampf des Bluts der Jahrtausende hilfreich in den Köpfen der Menschen festsetzten als Überlieferungen, Erzählungen, Leitsätze - die schlechteren Texte überlebten schlichtweg nicht, weil deren "Träger" wegen fehlgeleiteter Leitsätze eher umkamen. So haben sich gerade in der Knappheit des Angebots der Vergangenheit - materiell wie geistig - gerade die Texte durchgesetzt, die für den Menschen, seinen Alltag und sein Überleben, die größte Hilfe darstellen. Welche Texte sind das, und nach welchen kriterien fand die Auswahl statt? Ganz sicher war die Auswahl nicht algorithmisch, es sein denn man glaube nun daran, dass sich ein singulärer Filter der anthropologischen Relevanz algorithmisch herstellen ließe. Aber "herstellen" deutet schon auf den geringen Gehalt an Leben, den erhöhten Gehalt an Erstarrung dieser Methode, daher bleibt nur der erste Leitsatz: Suche Gott.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Der darwinistisch inspirierte und theologisch motivierte Kommentator liest offenbar ein Pathos in den Text, das er selbst dort hineinlegt. Weshalb sollte der Mensch sich in ein neues Wesen verwandeln? Der Mensch ist ein filtrierendes Medium, seit er mit Augen und Ohren zum Hören und Sehen durch komplizierte Umwelten wandelt, - aber seine Umwelt hat sich inzwischen selbst verwandelt und vervielfältigt, dynamisiert und virtualisiert. Der Mensch bleibt, der er sein wird, ein "nicht festgestelltes Thier" (Nietzsche) mit beschränkter Aufnahmekapazität. Der Darwinismus (auch in der Form eines Textdarwinismus) ist aber keine Optimierungs-, sondern eine Anpassungstheorie. Ändert sich der Alltag, werden sich auch die zu ihm passenden Texte ändern. Der hier oben stehende Text schlägt, wie ich ihn verstehe, nicht vor, Menschen in Algorithmen zu verwandeln, das wäre auch Unsinn. Aber er verdeutlicht, wie mir scheint, dass das Internet ihn in seiner filtrierenden Kompetenz mehr (vor allem aber: anders) fordert als viele Umwelten zuvor; und zwar nicht nur als Reduktor von Komplexität, sondern auch als Weiterleiter solcher Reduktionen. Ob dabei die Mythen eine besondere Rolle spielen werden, wird sich (wie bei jedem guten Darwinismus) erst zeigen. Das ist eine Pointe, die dem Kanonisierer nicht gefällt, der immer (als Einer für Alle) unterscheiden können will zwischen Relevanz und Nicht-Relevanz. Aber Bildungsbürgernostalgie und Schauermärchen vom Kampf zwischen "Leben" und "Erstarrung" sind in diesen Angelegenheiten fehl am Platze.

      Ein Hinweis sei dem Kommentator aber mit auf den Weg gegeben: er möge nicht Gott, sondern Orientierung suchen.

      Löschen
  7. Gott twittert (von woher?) gerade, dass er den letzten aufgemerkten Satz dick unterstreicht und demnächst (Montag war noch nie "sein" Tag) vielleicht was dazu posted. Kann aber - bei bleibend schönem Wetter - noch dauern ...

    Bislang bleibt vornotiert: "Arbeitstitel: Als ich mit Nietzschen endlich mal alleine face to face schweigen, lärmen und texten konnte (#Neuestes Test-a-Mint, frischer Atem und so)".

    AntwortenLöschen
  8. Der Nietzsche schützt ein Recht, das keine Nietzsches schützt. Macht ihn das groß oder klein? Wie kann man darüber forschen?

    AntwortenLöschen