Dienstag, 6. November 2012

Ko-Involviertheit - Über die Ergänzung des Menschen



tl;dr: Menschen kommen als sie selbst in der Welt nicht einfach nur so vor. (Phänomenologie lesen undsoweiter.)

"ÜberaurischesEi"
Weder für sich noch als Andere für Andere sind Menschen in der gleichen Weise "da" wie andere Gegenstände -- ein Tisch oder ein Teller zum Beispiel. Sichtbar wird dieser Um-stand mit-unter im Ge-sicht. Einem Gesicht, das - zunächst und zumeist - das Gesicht eines Anderen ist: An-gesicht, öffnet es mit seiner spezifischen mimischen Immersionsspannung anders den Raum als der gestikulierende Körper oder auch anders als eine Tür.
Die menschlichen Gesichter nämlich sind [...] an sich schon Geschöpfe eines Intimitätsfeldes eigener Art, in dem der Anblick durch den Hinblick modelliert wird.
(Sloterdijk, Sphären II)
Menschen sind Nähe-Wesen - Wesen des Aufenthalts in meta- [eigentlich intra- oder inter-] physischen Milieus. Innerhalb einer sonst plump vor sich hingestellten Klotzmaterie bewegen sie sich in bedeutenden, spannungsangereicherten Vektorräumen, die ihre Aufmerksamkeiten lenken und distrahieren. Halb gezogen, halb hingesunken, halb aufmerkend, halb aufgehalten schieben sich zwar ihre Körper stets nur räumlich durch die (vielleicht) kontinuierlich verstreichende Zeit, aber das "Wo?" ihrer Aufenthalte und das "Worauf?" ihrer Aufmerksamkeiten befindet sich zugleich stets und immer auch in einem inneren Außerhalb.
Daran läßt sich wiederum erkennen, daß soziale Systeme autopoietische, sich selbst und ihre Grenzen seligierende Systeme sind. Auch in konkreten Alltagssituationen, und gerade hier, ist diese Autonomie unerläßlich, um Abstand zu gewinnen; und gerade situationsabhängige, durch alles Wahrnehmbare angreifbare Systeme müssen sich vorbehalten, mit Hilfe der Anwesenden entscheiden zu können, wer und was als anwesend zu gelten hat. Wie könnte man anders sich in einem Restaurant unterhalten, sich im Theaterfoyer verabreden, Fernsehaufnahmen durchführen, Schlangestehen für den Bus oder auch nur Autofahren?
(Luhmann, Soziale Systeme)
"Suche ontologische Eisenspäne.."
Anwesend sein heißt daher: bei etwas anderem sein, beschäftigt, befasst mit, fasziniert von etwas anderem, das man nicht schon selbst ist, auf das man als Ergänzendes in dem einfachen Sinne angewiesen ist, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas (anderem) ist. Das Andere des Eigenen, an dem jede Gegenwart (und so auch jedes Bewusstsein) hängt, ist damit die notwendige Ergänzung, die dem Einzelnen immer schon zuvorgekommen ist. Das Ich setzt sich also nicht "selbst schlechthin und alle Realität in sich" (Schelling), es entdeckt sich zunächst als ein bewegt-bewegendes Aufmerken auf Anderes: die Gegenstände, die Welt. Mit diesem Anderen ist es zugleich konfrontiert und involviert, ihm gegenüber aber zugleich schon in es verstrickt. Das Gegenüber-Sein ist also kein schlechthinniges Bei-sich-Sein, dem das Andere des Gegenüber nur zufällig so anhängt, es ist immer zugleich "Hier"- und "Da"-Sein: dynamische "Differenz von System und Umwelt". 

Da wir diese bewegt-bewegende Ko-Involviertheit des Menschen meist vom alltäglichen Gegenstandsgebrauch her auslegen, verkennen wir oft deren involvierenden Anteil und landen dann bei einer Theorie des (primär mit Materie) konfrontierten Menschen, der mit dem "Nicht-Ich"-Material "da draußen" irgendwie technisch umzugehen hat: Bewusstsein und Gegenstand, Subjekt und Objekt, Mensch und Ding, usw. auf das dann erst im nachhinein irgendwelche Werteigenschaften projiziert werden. Eine Anthropologie des immersiven Menschen fängt dagegen auf der Innenseite der Verstrickungen mit ihren Beschreibungen an und präsentiert sich so als Selbstinnenausschreitung des ekstatischen Hier- und Daseins.
Darum ist die Erkundigung nach unserem Wo sinnvoller denn je, denn sie richtet sich auf den Ort, den Menschen erzeugen, um zu haben, worin sie vorkommen können als die, die sie sind.
(Sloterdijk, Sphären II) 

3 Kommentare:

  1. „Anwesend sein heißt daher: bei etwas anderem sein, beschäftigt, befasst mit, fasziniert von etwas anderem, das man nicht schon selbst ist, auf das man als Ergänzendes in dem einfachen Sinne angewiesen ist, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas (anderem) ist.“

    Hier wird ja vorwiegend philosophisch argumentiert. Wenn aber schon Soziologie heranzitiert wird, sei folgende Frage gestattet: Anwesend wird als fasziniert von e t w a s verstanden. Die Aufmerksamkeit richtet sich also auf Dinge. Was ist denn mit dem Fasziniert-Sein von j e m a n d e n? Erving Goffman beschreibt einen sozialen Kontakt als Orientierung von Angesicht zu Angesicht (Goffman 1982, S. 106f.). Anwesenheit der Beteiligten impliziert, dass die Anwesenden sich gegenseitig wahrnehmen und sich diesem Umstand auch bewusst sind. Dass Menschen auch anderen Menschen begegnen können und diesen ihre Aufmerksamkeit schenken, scheint hier als Möglichkeit gar nicht in Betracht zu kommen. Im Kontext soziologischer Zitate erscheint das etwas seltsam. Hatte nicht gerade Luhmann gezeigt, dass man mit der Subjekt-Objekt-Unterscheidung nicht mehr weiterkommt? Dieser Blog-Post lässt erahnen warum. Die Reduktion auf Materie scheint die soziale Problemstellung zu verdecken – also die Beziehung Mensch-Mensch (Ego-Alter). Diese lässt sich nicht einfach in eine Mensch-Ding-Beziehung auflösen.

    Goffman, Erving (1982): Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt am Main.

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    1. Dem kann "ich" nur zustimmmen. Es ist genau die Dimension der Mensch-Mensch-Beziehung, die hier in den Fokus gerückt sein soll (hier würde ich allerdings unterstreichen: es ist genau diese Dimension, die hier in den Fokus gerückt sein soll), es müsste also in der Tat genauer heißen: fasziniert von jemandem.

      Hier würde ich mir eine noch genauere Konkretion des Nicht-in-Betracht-Kommens wünschen.

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  2. Ok, dann war es nur ein Missverständnis. Ich wollte eigentlich nur auf diese Unklarheit hinweisen, da sich der ganze Beitrag nur auf die Mensch-Ding- oder Subjekt-Objekt-Beziehung zu konzentrieren scheint. Die Befürchtung war, dass mit diesem Beobachtungsschema zwar Technikprobleme in den Blick kommen, die dann immer auf die Frage hinauslaufen, was mit dem Subjekt (psychisches System) geschieht. Soziale Probleme kommen dann aber nicht in den Blick oder müssen psychologisiert werden. Mit dem Nicht-In-Betracht-Kommen war der blinde Fleck des Beobachtungsschemas Subjekt-Objekt bzw. Mensch-Ding angesprochen. Da der Beitrag ansonsten ziemlich gut geschrieben ist, schien mir hier das Problem der Subjekt-Objekt-Unterscheidung, auf das Luhmann hinwies, ziemlich deutlich hervor zu treten. Jetzt sieht man, was so eine kleine Ungenauigkeit ausmachen kann - also welche Perspektivenveränderung dadurch zustande kommt.

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