Dienstag, 6. Dezember 2011

Mit Kant über Zahnlücken hinwegsehen lernen...


Viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht abstrahieren können. Der Freier könnte eine gute Heurat machen, wenn er nur über eine Warze im Gesicht oder eine Zahnlücke seiner Geliebten wegsehen könnte. Es ist aber eine besondere Unart unseres Attentionsvermögens, gerade darauf, was fehlerhaft an anderen ist, auch unwillkürlich seine Aufmerksamkeit zu heften: seine Augen auf einen dem Gesicht gerade gegen über am Rock fehlenden Knopf, oder die Zahnlücke, oder einen angewohnten Sprachfehler zu richten, und den anderen dadurch zu verwirren, sich selbst aber auch im Umgange das Spiel zu verderben. – Wenn das Hauptsächliche gut ist, so ist es nicht allein billig, sondern auch klüglich gehandelt, über das Üble an anderen, ja selbst unseres eigenen Glückszustandes, wegzusehen; aber dieses Vermögen zu abstrahieren ist eine Gemütsstärke, welche nur durch Übung erworben werden kann.
(Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht)

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